Gisela

Als ich begann, den Keller auszuräumen, sah ich nach kurzer Zeit ihre Silhouette. Neben den Skiern, zwischen eine Kühlbox und drei Umzugskartons geklemmt. Der grobe leinerne Kissenbezug, in die ich sie vor über 20 Jahren gewickelt hatte, stand an der Seite offen. Kleine bleiche Finger sahen heraus.
Es war wie bei jedem meiner zahlreichen Umzüge, ich beschloß, das Bündel mit dem kleinen, starren Körper wegzuwerfen. Einfach so in den Müll, mit allem anderen, von dem ich mich ohne Probleme trennte. Es würde nicht auffallen, der Container war riesig und morgen kam die Müllabfuhr und ich war sie endlich los.
Wie jedes Mal zögerte ich, als ich das Bündel schmutzigen Leinens auf dem Arm hielt. Sie war so leicht. Ich öffnete wie jedes Mal den Leinenbezug, um einen Blick auf sie zu werfen. Die starren Glieder, ich hatte immer Angst, daß sie könnten zerbrechen. Das verdrückte Kleidchen und die vergilbte Rüschenhose auf dem Kinderpopo. Das stumpfe flachsfarbene Haar. Die Augen, die sich öffneten und schlossen, wenn ich sie wiegte.
„Nenn sie doch Gisela“, sagte KKM, als sie sie mir zum ersten Mal in den Arm legte.
Damals war ich nicht wesentlich größer als sie. Ich mußte mit aller Vorsicht mit ihr umgehen, denn sie war aus Porzellan. Die Puppe eines verwöhnten Mädchens aus der sächsischen Provinz, 1927 oder 1928 hatte sie wohl unter dem Weihnachtsbaum gesessen.
Ich mochte Gisela nicht so richtig, sie war zu empfindlich. Die anderen 2 Puppen, die ich hatte, waren aus Plastik und ich konnte sie nach Herzenslust quälen. Sie mit Nadeln zerstechen, verbiegen, quetschen und ihnen Arme und Beine ausreißen. Gisela saß auf dem Sofa, im frisch gebügelten Kleidchen, mit neu geflochtenem Zopf (echte Haare!) und schaute blasiert zu.
Als ich von KKM wegging, zu meinen Eltern, geriet sie in Vergessenheit. Sehr viel später, ich war Anfang 20, fand ich sie wieder. Sie war wieder in das Haus geraten, in dem sie einst unterm Weihnachtsbaum gesesssen hatte. Bei der Auflösung des Hausrats meiner Urgroßeltern fand ich sie auf dem Boden eines riesigen Schrankes. Ich wickelte sie in einen handgewebten Lausitzer Kissenbezug und nahm sie mit. Nun begleitete sie mich, zog von Schrank zu Zwischenboden zum Keller, von brandenburgisch Sibirien in den Prenzlauer Berg, nach Schöneberg, nach Köpenick…
Sie war gut 20 Jahre meine versteckte Begleiterin, als ich KKM dabei assistierte, einen Rentenantrag für Kindererziehungsjahre zu stellen. Wir saßen vor den Papieren. Liste der Kinder, Geburtsdaten. Mein Vater. Mein Onkel. Dann noch das Mädchen, das bei der Geburt starb. Die Zwillingsschwester meines Onkels. Ich wußte nur, daß sie den ersten Tag nicht überlebte. KKM reichte mir einen Zettel. Eine Geburtsurkunde.
Gisela.

Deshalb ist die Puppe immer noch bei mir. Nun in einem Außenlager, keine 5 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sie mir KKM reichte und ihr einen Namen gab. Es ist recht so.
Am Tag der Beerdigung von KKM, draußen vor der Haustür, wir waren allein, begann mein Onkel zu reden: „Der Vater hat mich nie richtig angesehen. Ich war da. Aber er wollte ein Mädchen. Als sie dich dann aufgenommen haben, war er endlich glücklich.“
Das Mädele. Das Ziehkind. Der Ersatz.
Seit über 20 Jahren schleppe ich das Bündel mit Namen Gisela durch die Welt. „Die Kinderleiche“ habe ich es immer genannt, wenn es mir wieder in die Hände fiel. Wir gehören wohl zusammen.

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16 Gedanken zu „Gisela

  1. Uff. Eine Haßliebe.
    Ich würde es wohl auch nicht übers Herz bringen, sie wegzuschmeißen.

  2. Klingt schon wieder nach Stoff für ein Drehbuch – eine Gratwanderung zwischen rührend (irgendwie) und gruselig (deutlich mehr).

    PS: Falls sie sie doch mal loswerden wollen, bringen sie sie in eine Puppenklinik, lassen sie dort generalüberholen und versteigern sie dann via Internet. Sammler zahlen utopische Preise für alte Porzellanpuppen, und mit dem Erlös machen Sie sich aus Anlass der neugewonnenen Freiheit einen schönen Abend mit Freunden.

  3. Die würde ich auch nicht hergeben, die Gisela. Warum auch. Die gehört doch zu deinen Leben. Ich habe auch so einen alten Teddy, mit dem schon meine Mutter gespielt hat. Dafür hat man mir schon irre Summen geboten, da es einer mit Knopf im Ohr ist. Aber… nee.. das bringt kein Glück. Von so etwas trennt man sich nicht… da gibt es genug anderes von dem man sich trennen kann und dann auch eher ein befreites Gefühl haben kann. ;-))
    Gutes Gelingen für die nächsten Tage.

  4. REPLY:
    In großen Städten – insofern denke ich, dass Berlin da doch etwas anzubieten haben dürfte.

    Grad gefunden:
    http://www.puppenklinikrenate.de/ind_willkommen.html

    Die Suchanfrage „puppenklinik berlin“ spuckt aber einige Ergebnisse mehr aus, sodass Sie sicher etwas finden können, was Ihnen von der Entfernung her gelegen kommt.

    PS: Ich hab mich vergangenes Jahr von einem ebenfalls hassgeliebten Teddybären aus den 60ern getrennt; die Käuferin war überglücklich – und ich sehr erleichtert, diese seltsame Hypothek los zu sein.

  5. REPLY:
    ich bin immer kurz davor, sie zu verkaufen und dann zögere ich, weil sie so runtergekommen aussieht. wo gibts denn puppenkliniken?

  6. REPLY:
    so einen teddy gibt es auch noch in der familie. 1946 aus dem mantel einer nachbarin und etwas sofabezug genäht, der anzug ist aus uniformstoff.
    aber gisela liegt immer nur im keller. sie ist mir zu unheimlich.

  7. Ich finde nicht, daß man zuständig ist, anderer Menschen tote Erwartungen durch das Leben zu schleppen, und finde es schon gruselig von KKM, Ihnen das anzutun. Weg damit! (Und ich bin bestimmt ein Meister im Schleppen der Erwartungen anderer!)

  8. REPLY:
    „Meister im Schleppen der Erwartungen anderer“
    wir könnten uns im club der anonymen erwartungsträger treffen.
    ich verkauf das ding, wenn sie mir das nächste mal in die hand fällt, versprochen!

  9. REPLY:
    Und mal abgesehen davon, vielleicht freut sich der/die neue Besitzerin sehr und sie kommt damit auch noch in freundliche Hände und muß nicht immer irgendwo im Keller liegen.

  10. Gisela würde ich im Pappkarton, an eine Mülltonne gelehnt aussetzen!

  11. REPLY:
    ich würde gisela herrichten lassen, sie versteigern und den erlös spenden – so wird aus einer last etwas gutes

  12. In der Familie meines Vaters gab es auch ein Kind, das sehr früh starb. Seine Geschwister waren zu jung, um das jetzt noch zu wissen, oder noch nicht einmal geboren. Ich weiß nur davon, weil mein Großvater einmal seiner Schwiegertochter, meiner Mutter, davon erzählte. Meine Großmutter hat den Tod des Kleinen wohl verdrängt. Manchmal denke ich daran, dass es nach ihrem Tod außer mir keinen in der Familie mehr gibt, der sich noch an dieses kleine Kind erinnern wird. Und dann nehme ich mir vor, einem eigenen Kind einmal seinen Namen zu geben.

    Heben Sie Gisela auf, und wenn es weiterhin im Keller ist. Als Andenken an ein kleines Mädchen, an das sonst keiner mehr denkt.

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