Frühwintersonntagsmäander

Primavera schreibt, ihr Garten sei unter der Last des feuchten Schnees verwüstet. Es schneite in der Wochenmitte 30cm. Die Bäume hatten noch Blätter und Nüsse und Äpfel hingen auch noch daran. Nun brechen die Äste und die Hecken legen sich um.
In Berlin war vom Schnee nichts zu merken, wie immer.

Wenn die sozialen Medien hochdrehen, werde ich umgekehrt proportional ruhiger, wie immer. Wenn andere kakeln, mirakeln und spektakeln, muss ich das nicht auch noch tun.

Das Phänomen „die da“. … sind dumm … ohne Anstand … ohne unsere Werte … hassen uns … Warum sollte sich die Gesellschaft ihrer Probleme annehmen? Als großstädtische Akademikerin kann man Jahre verbringen, ohne wirkliche Berührung mit „denen da“. Sie bleiben fremd, anders. Der Ingenieur aus dem Nahen Osten scheint vertrauter als der arbeitslose Vater von Schantall mit den rosa Leggings.

Die Ressentiments sind gegenseitig und Misstrauen und Unbehagen gegenüber dem Fremden lassen sich jeweils vortrefflich auf jeweils die anderen projizieren.
Als ich in der Reha war, kotzte sich in einer Berufstrainingsrunde ein Rettungsassistent auch über „die da“ aus. Nur meinte er damit keine unzufriedenen Bürger, die demnächst drohen, die falsche Partei zu wählen. Ihm waren die Weddinger Omas mit dem Raucherbein näher als die Leute vom Wannsee, die es am Herzen haben. „Arrogante Typen mitm Stock im Arsch“ nannte er sie. Haltung, Distanz und Selbstbeherrschung waren für ihn keine Werte. Er fühlte sich nicht akzeptiert und respektiert, weil man zu ihm nicht offen und freundlich war.

Wir haben nur noch wenig Gelegenheit, aufeinander angewiesen zu sein. Im Berliner Mietshaus sollten alle Gesellschaftsschichten einträchtig beieinander wohnen (die einen auf den billigen, die anderen auf den teuren Plätzen), im Plattenbau wohnte der Kombinatsdirektor neben dem Schlosser.
Viele Wohnviertel in den Großstädten sind so entmischt, dass sich gesellschaftliche Schichten nur mehr nähern, wenn sie in der Berufsrolle sind. Als Kassiererin oder Ärztin, was auch immer. Vielleicht gibt es noch ein Fenster, wenn man in jungen Jahren in ein billiges Viertel zieht. Wenn sich Haltung und Werte verfestigt haben, ist man unter seinesgleichen, die wilde Zeit im abgeranzten Viertel hat dann nur noch anekdotischen Wert.
Berlin war mal „der Punk sitzt hier neben dem Banker“. Auch wenn sie noch nebeneinander sitzen sollten, wollen sie miteineinander zu tun haben?

War das mal anders? Es war sogar schlimmer. Es gab Herrschaften und Leute. Und es gab ganz wenige Leute, die zu Herrschaften wurden und Herrschaften wahrten so lange wie möglich den Schein, damit man sie nicht für Leute hielt.

In einer Gesellschaft, die für sich beansprucht, dass jeder es mit Bildung und Fleiß in eine höhere Gesellschaftsschicht schaffen kann, sollte sich doch alles bunt mischen. Man weiß schließlich, wo man herkommt.
Tut es das wirklich? Gibt es Diversity im Hinblick auf Gesellschaftsschichten und Differenzen in Ansprüchen, Wertvorstellungen und Habitus?
Edit: Und was ist mit denen, die da bleiben, wo sie waren oder das Rattenrennen nach oben, zu den „wahren Werten“, zu einem anderen Habitus, die wir auch als Anstand und Benehmen definieren, nicht schaffen? Für die Schulbildung Qual ist, die sich in engen Rastern wohl fühlen? Die tun, was sie können, es aber nie reicht? Sind sie berechtigt zu echter Teilhabe oder lediglich ungeliebte Fürsorgemasse, die mitgeschleppt wird?
Oder sind sie womöglich nur Anlass für den schrägen Blick in den Spiegel? – Das könntest du sein, wenn du dich damals nicht auf den Hintern gesetzt und das Abitur/das Studium etc abgeschlossen hättest. Die Unterschicht als Symbol des abgespaltenen inneren Schweinehunds/Spießers der gesellschaftlichen Eliten. Edit Ende.

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