Dieser Satz ging eine ganze Weile nicht aus meinem Inneren weg, als ich im Café du Bonheur vor meinem Café au Lait und einem Dulcey-Törtchen saß und die Kellnerin ein Glas Rosé-Cremant vor uns hinstellte.
Ich saß mit dem Grafen in einem französische Café am Ostende der Brunnenstraße. Vor genau 30 Jahren wohnte gut zweihundert Meter von hier, in der Schönholzer Straße, mein Freund N., den ich oft besuchte, wenn ich in Berlin war. In dieser Straße patroullierten immer Polizisten, das war die Stelle, an der in den 60ern die Fluchttunnel gegraben wurden. Die mauerzugewandte Seite der Straße war von besonders vertrauenswürdigen Leuten bewohnt und man brauchte für den Besuch einen Passierschein. N. wohnte auf der weniger vertrauenswürdigen Seite, bei der es aber immer angeraten war, den Personalausweis griffbereit bei sich zu haben, um nicht auf dem Polizeirevier die Straße weiter unten zu landen.
Er hatte im zweiten Stock, am Ende einer von zwei weiteren Parteien bewohnten Wohnung, zwei schlauchförmige Zimmer mit Gaskocher und einem Kanonenofen zugewiesen bekommen. Die sechs Personen teilten sich ein winziges Klo (aber hey, in der Wohnung, nicht halbe Treppe!), ein Bad gab es nicht. Der Grundriß der Wohnung entsprach der, die wir heute zwei Blöcke weiter bewohnen. – Allein, ohne unfreiwillige Mitbewohner, zu zweit, nicht zu sechst.
Wenn ich zu N. in die Schönholzer einbog, versperrte zehn Meter weiter die Brunnenstraße hinauf, die Mauer die Straße. Das war das erste Mal, dass mir die Brutalität der Berliner Teilung richtig bewusst wurde. Oft lief die Mauer eben nur parallel irgendwo entlang und schloss Niemandlandsbereiche ein, wie zum Beispiel an dem Stück, an dem sich heute die East Side Gallery befindet oder um das Brandenburger Tor. Man konnte sich an der Mauer entlang von A nach B bewegen (wo das unerreichbare C liegt, wußte ein nach dem Mauerbau geborener Mensch ohnehin nicht mehr), hier aber, in der Brunnenstraße, wurde die Bewegung abrupt gestoppt. Die Welt war zu Ende.
Was würde ich heute tun, wenn das so geblieben wäre? Wäre ich eingeknickt und hätte eine lohnende Kulturkarriere mit besonders engagiertem Blöken in der großen Schafherde bezahlt? Hätte ich die Achtung der Familie drangegeben und wäre auf der anderen Seite der Mauer gelandet? Hätte ich mich als Selbstversorgerin in eine Bauernkate in der Uckermark verkrochen? Man weiß es nicht.
Dieser Satz, der mir im Kopf stand und nicht wegging, bezog sich aber nicht nur auf die Kurven, die mein Leben innerhalb von 30 Jahren genommen hatte. Vor drei Jahren war mein Leben auf den Nullpunkt zusammengeschrumpft. Ich saß allein in dem kleinen Nestchen in Schöneberg, hatte kategorisches Arbeitsverbot vom Arzt bekommen und die Brücken in mein früheres Leben lagen abgebrochen hinter mir. Die Freunde sahen nach mir, aber ich wußte, dass ich nicht kommunikativ genug war, als dass das lange gut gehen konnte. Irgendwann würde ich alle Verbindungen kappen. Mir hätte ein große Karriere als Crazy Cat Lady without Cats bevorstehen können.
Doch es kam anders. Ich bin sehr dankbar dafür.
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Ich auch. Für Dich.
:)
das ist so einer von diesen texten, die ein extra lesezeichen bekommen, damit ich sie in gewissen momenten wiederfinden kann.
du wärst dir sicher treu geblieben, auch unter völlig anderen umständen, das wesentliche einer persönlichkeit ist glaub‘ ich unabhängig von äußeren umständen, wobei extremes wie eine diktatur sicher anderes ans licht bringt als die dinge, die bei uns nötig sind. und zum letzten absatz: du hattest auch in der phase einen sehr aufrechten gang, mein ich zu erinnern, klar, dass es gut weitergegangen ist. (sagt die, die gelegentlich ein crazy-lady-leben with dogs vor sich sieht)
Purer Narzissmus, das mit dem aufrechten Gang. Wenn ich mich dimme, spüre ich mich nicht mehr. (Auch wenn es eigentlich besser wäre, nicht immer lichterloh als Fackel durch die Gegend zu laufen.)
bookmark auch hier. ich frage mich oft, was ich gemacht hätte in der
verwesendengewesenen täterä. oder was mit meinen eltern geworden wäre.meinen eltern wär’s besser bekommen, aber ich wäre vermutlich eher früher als später mit nem maulkorb versehen worden (oder hätte die entsprechenden repressalien abbekommen). vieles, was ich als für mich eminent wichtig empfinde, wäre schwer oder nicht machbar gewesen.
wobei: wenn ich mir die richtung ansehe, in die vieles jetzt läuft, dann frage ich mich, wie lange es diese freiheit noch gibt, stichwort „schere im kopf“.
man wird sehen.
Schere im Kopf, da stimme ich dir zu. Ich habe in den letzten drei Wochen einen Blogpost nicht veröffentlicht und einen gar nicht geschrieben. Einfach weil ich mir dachte, das ist die Mühe nicht wert, hinterher gedizzt zu werden. Und es passierte mir einmal am Telefon, dass meine Gesprächspartnerin und ich den Satz sagten: „Hier können wir ja offen reden“ und ideologische Euphemismen fallen ließen und uns mit der Realität und deren Bewertung beschäftigten. Es hat mich sehr erschreckt, dass es wieder so weit gekommen ist.
Nachtrag: Ich ahbe in den letzten Monaten viel in alten Blogposts gelesen. Da fiel mir eins auf: Was als Zeitdokument bleibt, sind nicht die Texte der Angepaßten und Verhuschten, sondern die, die Reibungsfläche boten.