Einheitsbrei

Vor genau zehn Jahren fuhr ich mit meiner Tochter nach Berchtesgaden. Da die Autobahn an einer Baustelle zugestaut war, nahm ich die Landstraße über die Niederlausitzer Braunkohlendörfer um Bronkow. Und da habe ich dann versucht, meinem Kind, das bei Mauerfall zweieinhalb Jahre alt war, zu erklären, wie das hier früher aussah: Keine oder verbeulte Gehwege, Straßen mit tiefen Schlaglöchern, an allem haftender Dreck und Staub, Mief in der Luft und ein deprimierendes Grau-in-Grau. Als einziger Farbtupfer Frauen in Kittelschürze auf Fahrrädern, das Kind auf dem Kindersattel, zwei volle Einkaufsbeutel am Lenker. Wenn der Tagebau näherrückte, wurden die Menschen in Plattenbauviertel umgesiedelt, die am Rand der industriellen Kleinstädte wie Hoyerswerda oder Senftenberg lagen. Bauern bekamen andere Jobs. Haustiere und Gärten gab es nicht mehr. Dörfliche Gemeinschaften wurden auseinander gerissen, wenn die Wohnungen nicht reichten.
Jetzt waren die Dörfer adrett und sauber. Die Straßen und Gehwege grade und trocken. Die Häuser mit Baumarktcharme saniert. Ab und zu war auch ein Mensch zu sehen. Meist ein alter Mensch.
Meine Tochter hat – damals zehnjährig – nicht so richtig verstanden, was ich meinte. Es war mal wieder so ein bißchen „Mama erzählt vom Krieg“. Was sollte ich auch sagen? Ihr erzählen, daß die Raststätte Frankenwald für mich in einer anderen Welt lag? Berchtesgaden für mich mit Hitler assoziiert war und nicht mit Skifahren und Bergwandern?
Ich will die Mauer nicht zurückhaben. Ich will nie wieder im Februarsmog in einem Dreckloch, wie es Leipzig einst war, einen Asthmaanfall bekommen. Ich will nie wieder die gemunkelten Geschichten über auffällig häufige Kindesmißbildungen in der Bitterfelder Gegend hören und nicht wissen: Ist das negative Propaganda oder die Wahrheit?
Mal abgesehen von der ganzen kommunistisch-quasi-religiösen Gehirnwäschescheiße, die mein Leben von frühester Kindheit an bestimmt hat.
Ja, es ist richtig so.
Und ja, es ist schmerzlich, daß Millionen von Menschen in dem Gefühl leben, wohlgepflegte Eingeborene einer nahen Kolonie zu sein. Sonderbar und belächelt in ihrem Anderssein, kostspielig, unselbständig, larmoyant.
Die adretten Straßen täuschen nicht darüber hinweg, daß die ostdeutsche Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zerfällt. Menschen, die die neu entstandene Welt akzeptieren (denn der Westen ist auch nicht mehr das, was er mal war) und sich integrieren und Menschen, die ihre alte Lebenshaltung beibehalten haben. Die entweder aus alter Ideologie und ihren Grabenweisheiten besteht oder aus der Gemengelage von ewigem Misstrauen gegen „die da oben“ und dem Verharren in Unmündigkeit und Abhängigkeit.
Das waren jetzt alles keine perfekt gebaute Sätze, aber es mußte mal raus.

13 Gedanken zu „Einheitsbrei

  1. ich hatte auch gleich ein bild vom transit im winter. der schnee entlang der autobahn war schwarz. so richtig vollschwarz. billy-holiday-schwarz.

  2. fein! ich hatte gestern auch nein einheitstext in der röhre, aber der ist mir nicht geraten, mußte ich wegschmeissen.

  3. auch wenns keine perfekten sätze sind: das ist schön geschrieben. jedenfalls mir aus dem herzen.
    und leipzig im winter war grauenvoll, mit den kohleheizungs-rußwolken überall und den schwarzgammeligen altbauten, deren treppenhäuser wie ein vorhof zur hölle aussahen mit den zerlatschten stufen aus uraltem holz, das stellenweise löcher hatte, die so groß waren wie mein fuß damals, die dunkelheit, weils ja keinen kümmerte, wenn ne glühbirne tot war – und alles in diesem furchtbaren dunkelbraun gestrichen. und das ganze gefüllt mit einem geruch aus altem bohnerwachs und kohlenstaub und kochendem weißkohl und müffelndem klo auf der halben treppe.
    buargh!

    und dass es heute noch leute gibt, die die zeit gern wiederhätten, das frappiert mich immer wieder. noch dazu, weil ich so einen in meiner direkten umgebung habe. aber gut, der gehört auch eineindeutig in die kategorie „wendeverlierer“. manche lernens eben nie, und andere nicht mal dann.

    ich wünsch dir nen schönen, erfolgreichen tag!

  4. und ich (exwest) saß am dritten mit ole (exost) beim frühstück in schöneberg. wir haben uns angeprostet, auf diesen tag. und fast gewusst, daß es ohnehin niemand geschafft hätte, uns aufeinander schießen zu lassen.

  5. „der Westen ist auch nicht mehr das, was er mal war“
    Na Gott sei Dank.

  6. REPLY:
    es soll hier wie da menschen geben, die stolz darauf sind, noch nie „drüben“ gewesen zu sein. das hat auch einen vorteil: sie konservieren die welt in ihrem hirn auf dem stand von 1989.

  7. Also ich brauch keine „Beispiele“, die mir sagen, dass ich es heute besser habe. Mit fiele zu jedem üblen Missstand in der DDR einer ein, den es im anderen deutschen Teil zu beklagen gäbe; von Contergan über die norddeutschen Leukämiekinder, von den Nazis in den Regierungen und Ämtern, von der Neuen Heimat bis zu den Massenentlassungen. Was solls…
    Das ist es nicht.
    Als Schlimmstes empfinde ich und werde ich wohl immer empfinden, dass die DDR sozialistisch hieß/geheißen wurde und nicht sozialistisch war. Wenigstens gaukelt uns heute keiner was vor… Im Gergenteil, schulterzuckend sagt man, „das ist halt der Kapitalismus“…
    Und: Nicht als schlimm aber als widerwärtig lästig empfinde ich Versuche dieser Altbundesbürger, den DDRlern ihre Vergangenheit „erklären“ zu müssen.

    Wohlsein, nachträglich.

  8. REPLY:
    yep. wohlsein. diese situationen sind tatsächlich absurd. ich habe mal an einem tisch gesessen, an dem sich ein westdeutscher mit drei westberlinern über die ddr unterhalten hat. daß ich aus dem osten komme, wußten die. es wurde viel schwadroniert. genau wissen wollte es keiner.

    am wochenende hat es eine nähere bekannte von mir fertiggebracht, als sie meine tochter und ihren freund mit dem auto mitnahm, die ganze sache zu kommentieren mit: „na wir müssen uns ja jetzt vertragen. das gab ja zeiten wo ich gesagt habe, haut doch alle wieder ab… und daß ich mal mit zwei ostlern in einem auto fahre, das hätte mir auch keiner erzählen sollen.“ eine mitten im leben stehende endvierzigerin wohlgemerkt, keine altersstarre halbleiche. das wars dann auch mit der bekanntschaft. die nummer dieser dame habe ich gelöscht. dabei erwartet sie doch, daß wir uns demnächst auf parties rumtreiben und ich sie mit meinem cabrio durch die gegend chauffiere.

  9. REPLY:
    ich finde es erstaunlich, das diese sache überhaupt nicht öffentlich thematisiert wird.

  10. wir hatten so eine ahnung und sind am 09.11. einfach mal auf gut glück nach berlin gefahren. wenn auch mit etwas verspätung habe ich diesen unglaublichen tag miterlebt. wenn ich heute die bilder sehe auf denen bananen in die autos gereicht wurden ist es als bild einerseits geradezu beschämend lächerlich – andererseits bringt es eine von vielen unsäglichen dingen die damals schief lagen auf den punkt.

    egal was es wen auch immer gekostet hat – ich denke, es hat sich unterm strich mehr als gelohnt. für den einen eher, für den anderen weniger. und unter anderem auch, weil sich dieses land [und ich spreche jetzt mal als „westdeutscher“] verändert hat, wie es sich alleine niemals verändert hätte. die bilder der letzten wm sind auch bilder der einheit. und das ohne größeren schalen beigeschmack …

    p.s.: und das wirklich abartigste überhaupt war, daß wir auch aufeinander geschossen hätten. als ehemaliger, in sichtweite der grenze stationierter soldat wäre es eine lüge anderes zu behaupten. an dieser grenze war – schon allein wegen der optik – geistig immer alarmstufe rot. nicht umsonst waren wir einer der wenigen truppenteile, der immer mit geladener waffe im dienst war. jeder wußte, daß wir, die wir tief in das land des warschauer paktes geblickt haben, die ersten gewesen wären, wenn irgendwo etwas passiert wäre. manmanman, war das alles ein schlimmes kasperletheater …

  11. REPLY:
    Offen gestanden habe ich Verständnis für den westdeutschen Durchschnittsbürger, der das mit dem Einheitsgebots im Grundgesetzt und den Kerzen in den Fenstern und den Bananen in den 89er Novembertagen nicht SO ERNST zuende gedacht hatte, wie es sich zunächst so freundlich anhörte und dann aber mit voller Wucht über ihn kam…
    Dass es über ihn und nicht über die zweit- und drittklassigen Beamten mit Buschzulage und schon gar nicht über die paar Einzelhandelsgroßfilialisten kam, ist ja wohl unbestritten.
    Also: Seien wir milde. Die haben’s auch nicht gerade leicht…

  12. REPLY:
    nein, es geht nicht darum, daß sie ihre anpassungsschwierigkeiten thematisiert hat. es geht um ihr generelles: ich geh doch auf keine party und in kein restaurant im osten (berlin mitte wohlgemerkt). und das mit dem ostler in auto mitnehmen war nicht nett gesagt sondern eher in der richtung: daß ich mich mit solchen leuten abgeben muß. so was brauch ich wie nen kropf. vor allem vor dem hintergrund, daß sie mich zuschleimt, auf irgendwelche vip-parties mitgenommen zu werden oder so sprüche: da können wir ja ganz toll mit deinem auto fahren.

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