Der englische Besuch

ist ein ehemaliger Nachbar von HeMan. Einer von der Herde, die mittlerweile über die halbe Welt verstreut ist und sich in einer Wohnanlage in Sachsenhausen am Main kennengelernt hat.
HeMan hatte mich vorgewarnt: der ist ein bißchen sonderbar. Hi-End-Stereoanlagen-Nerd, kurz vorm absoluten Gehör. Beruflich ziemlich weit oben und im praktischen etwas gaga, zum Beispiel beim Beteiligen an Kneipenrechnungen.
Ich hatte sonstwen erwartet. Aber es stand nur ein netter, ein wenig rundlicher, weißhäutiger, straßenköterblond & brav frisierter Typ vor mir, der deutsch mit so einer dezenten Andeutung von britischer Versnobtheit sprach, daß es Spaß machte, ihm zuzuhören.
Das Wochenende verging wie im Flug. Wir haben das übliche, nach Wünschen und Interessen modifizierte Sightseening-Programm abgespult, das wir immer machen für die Nichtberliner.
Modifiziert hieß, der Gute wollte Klamotten kaufen, weil er in London vor lauter Arbeit nicht dazu kommt. Mit HeMan macht das Spaß, weil der männeruntypisch 1. gern sinnlos durch Geschäfte zieht und 2. tatsächlich einen ziemlich guten Geschmack hat.
Und so verbrachten wir den Samstag in Mitte und ließen sogar einen Standardprogrammpunkt ausfallen, nämlich die Scampipfanne bei Rogacki – besser kann man das alte Westberlin wirklich nicht auf einem Haufen erleben. (Im KaDeWe sind dafür zu viele Touristen unterwegs.)
Abends dann Kreuzberg, danach noch bis in die Nacht bei mir rumlümmeln. Doch vorher war ein Ausflug in das neue Alexa-Einkaufszentrum nötig. Der englische Besuch wollte nämlich eine LED-Leuchte kaufen, die per Fernbedienung sämtliche Lichtfarbtöne mixen kann. Die gibt es nämlich in England noch nicht. Und so kam auch ich in den Genuß des lädierten Mediamarktes in diesem komischen, in einem roten Bunker befindlichen Einkaufszentrum, das innen schwarz-gold-bunt wie Dubai-Luxus für Arme aussieht. Für Arme war auch das sonstige Publikum. Was den englischen Besuch nicht störte. Er war so fasziniert von diversen technischen Spielzeugen, daß wir ihm seine zwei Lampen an der Kasse zahlten und ihn aus dem Laden zerrten, sonst wären wir dort heute noch drin.
Sonntag war dann Ausflugsprogramm angesagt. Schroers Biergarten, Fischerdorf Rahnsdorf, Klein Venedig. Ich versuchte, anhand der dort lebenden und ausflügenden Spezies, dem englischen Besuch beizubringen, wie man Ossies von Wessies unterscheidet. Was allerdings bei diesen Unmengen fein zurecht gemachter Super-Illu-Leser nicht schwer war.
Der Tag endete im Kaffekahn, wie der Berliner sagt.
Und justament da merkte ich, daß ich an diesem Wochenende die ganze Konversation bestritt. Was bei einem Vielredner (fünf Minuten Redezeit sind Minimum, unter dem kommt man nicht dazwischen) wie HeMan etwas heißen mag.
Der englische Besuch und ich hatten Ähnlichkeiten, die unerwartete Syergieeffekte hervorriefen. Abgesehen von straßenköterblond, n paar Kilo zuviel und ein paar Blindflecke in der emotionalen Intelligenz, die mich genauso zieren, spielten wir uns die Bälle nur so zu. Zwei Aliens vom Typ analytischer Denker und Generalist hatten sich getroffen und jagten in assoziativen Rösselsprüngen durch die Themen. HeMan sorgte immer mal dafür, daß wir uns neben unseren Gedankenspielen auch noch vorwärts bewegten und von der Umwelt etwas mitbekamen. Ansonsten: Stöckchen, Hölzchen, Knöpfchen. Auswirkungen englischer Sprachstruktur auf die englischen Umgangsformen. Die Unterschiede in den industriellen Revolutionen in England und Deutschland. Die Moderne der 20er und die Architelktur der 50er. Wie kriegt man raus, wieviel Zigaretten ein ganzes Land konsumiert? Warum funktioniert Tropical Ilands nicht? Der Klugscheißmodus lief mit Blinken und Sirene.
Und ein bißchen war ich neidisch. Nee, anders formuliert, ich ärgerte mich über meine Faulheit. Daß ich mit ähnlichen Begabungen ins Leben gegangen bin. Daß ich ebenfalls mit Hochtempo lese, mit Leuchturmworten auch nach Jahren ganze Artikel, Faktengruppen und Zusammenhänge wieder aus dem Kopf holen und diese wiederum mit den absurdesten anderen Sachen in Zusammenhang bringen kann. Und was ich daraus gemacht habe. Meine Fremdsprachen sind vergessen. Ich arbeite zwar generalistisch, aber delegiere nichts mehr, was mir dringend not täte. Ich habe mich in einer Branche festgesetzt und dort meine maximalen Aufstiegschancen ausgereizt.
Der englische Besuch hingegen berät weltweit Unternehmen. Spricht Deutsch, Mandarin und scheinbar auch Japanisch.
Herrgott, an irgendeiner Stelle im Leben habe ich den falschen Abzweig genommen…

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2 Gedanken zu „Der englische Besuch

  1. falsche wege sind sehr relativ. ich glaube der we-bericht begann damit, daß der werte herr in london keine zeit zum einkaufen hat. ich hatte mal eine ähnliche krankheit. aber bevor ich mandarin oder russisch hätte lernen müssen habe ich gottseidank noch die kurve bekommen. mit inzwischen etwas abstand kann ich aus heutiger sicht die lebensqualität eines global players nur mitleidsvoll belächeln.

  2. REPLY:
    ja, da ist was dran. als mein ehrgeizblues vorüber war, sagte ich mir: he aber dafür hab ich ein tolles kind und er nicht mal eine freundin.

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