… und kam zu einem Foto, das einen illegalen Künstlerauftritt zeigt. In diesem rohen, mit Plakaten und Bildern vollgehangenen Dachboden in der Oderberger Straße war ich schon einmal, als ich Kollegen zu einem Auftritt begleitete.
Anfangs hatte ich noch den Impuls, HeMan zu erklären, was das alles ist, was es für mich bedeutet, was es in mir auslöst, aber ich tat es nicht. Ich war einfach nur noch von den Gefühl dieser Zeit überwältigt, vom wirren, wütenden Sommer 89.
Ich wohnte zwar mit Mann und Kind in jenem grauenvollen Kaff an der Grenze, das jetzt Frau Wortschnittchen unsicher macht, aber damals wie heute ist es nach Berlin ein Katzensprung. Wir waren häufig da, weil viele unserer Freunde dort wohnten. Eigentlich für die Frauen meines Studienjahres war ein paramilitärischer Lageraufenthalt vorgesehen (hieß das Sanitätslager?), ich hätte das als Mutter in Berlin absolvieren müssen, aber wir hörten schon zu Anfang des Sommers, daß diese Veranstaltung abgesagt sei, (offiziell wurde so getan, als wäre es selbstverständlich, daß es nicht stattfand, nach dem Motto: War was?). Es hätte zu viel Gelegenheit zu politischen Diskussionen gegeben und die Studentinnen der Schauspielschule „Ernst Busch“ seien da unrühmlich vorangegangen, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Dann gab es wieder Gerüchte, die Lager wären freizuhalten für den Fall politischer Unruhen, damit es genügend Internierungsmöglichkeiten gäbe.
Das ganze Land hing in der Luft. Honecker war krank und es hieß immer mal, es sei Nieren- oder Leberkrebs, der käme nicht wieder. Nur wer käme dann? Wer intrigierte schon in der Altmännerriege?
Im Jahr vorher lautete der Spruch unter den Frauen des Prenzlauer Bergs: „Kaum lernst du einen kennen, ist er schon im Westen.“ Denn alle coolen Typen des Viertels, die zu haben waren, hatten einen Ausreiseantrag laufen. Im Sommer 89 dann fuhren die Leute in Urlaub und kamen nicht wieder, denn Ungarn hatte die Grenzsicherungen abgebaut. Meine Kommilitonen besorgten sich Wohnungen, indem sie sie einfach aufbrachen und die Klamotten, die sie nicht brauchten, in den Sperrmüllcontainer warfen.
Es hieß, in Dresden würden morgens manchmal die Geschäfte nicht öffnen, weil kein Personal mehr da war und es gäbe Probleme bei der medizinischen Versorgung.
Plötzlich waren begehrte Jobs zu haben. Meine Freundin begann beim DDR-Fernsehen zu arbeiten und war einszweifix von der Absperrerin zur Setaufnahmeleiterin avanciert. Es fehlte Personal, hieß es.
Hieß es, hieß es… Die Informationslage war absolut schizophren. Hier die Gerüchte über die Bürgerrechtsbewegung, zu deren inneren Kreis weder ich noch meine Freunde gehörten. Dann Gerüchte über Ereignisse und die Lage im Lande, die wirklich desolat schien, vor allem in Sachsen. Da das Westfernsehen, das sich vorwiegend mit den Flüchtlingszahlen beschäftigte und kaum in der Lage war, authentische Berichterstattung aus dem Inneren der DDR zu liefern. Dort das DDR-Fernsehen, das im Hinblick auf Politik eine absurde Kabarettveranstaltung war und die den üblichen politischen Schwachsinn druckenden Tageszeitungen. Die Wochenzeitung „Wochenpost“ und der „Sonntag“ wurden sehnlichst erwartet. Dort schrieben Leute wie Christoph Dieckmann und Monika Maron Sätze, die heute in ihrer Vorsicht zahnlos wirken, die aber damals als „heiß“ galten.
An einer der Wände der Ausstellung hing ein Faksimile des „Neuen Deutschland“ vom 12. oder 21. (?) September. Der berühmte Artikel: „So werden BRD-Bürger gemacht“ – die Story mit der Mentholzigarettenentführung. Ich stand in der Erinnerung wieder mit meinen Kommilitonen im Seminarraum unter dem Dach der Universitätsstraße 6. Die Zeitung lag auf dem Tisch, irgendeiner der Genossen hatte sie mitgebracht. Jeder las und lachte. Die Stimmung war hysterisch. Das ist ja schlimmer als die Bildzeitung! rief ich wütend, der Dozent, der gerade hereinkam sah mich mit großen Augen erstaunt an*, schwieg aber. Wir waren uns einig, daß diese Verarsche ihnen selbst die strammen Genossen nicht mehr abkaufen würden.
Eine Tafel über die Demonstrationen in der Stadt am 6. Oktober. Ich hatte damals eine Aufführung im Deutschen Theater besucht und war danach sofort mit dem Zug in das Kaff an Grenze gefahren. Meine Wohnung in der Kopenhagener Straße suchte ich nicht mehr auf. Da wäre ich dann mittendrin gewesen, denn der Weg in meine Studentenbude wäre an der Gethsemane-Kirche vorbei gegangen.
Das, was heute Berlin-Mitte ist, kochte. Jede Menge junge Arbeiter aus dem ganzen Land waren im Blauhemd unterwegs. Sie kamen vom Fackelzug zu Ehren des 40. Geburtstages der DDR und hatten sich vor Wut und Ärger betrunken. Vor Stunden hatte man noch für sie das ganze U-Bahnnetz lahmgelegt und sie mit Sonderzügen an ihren Bestimmungsort gefahren, damit sie ja nicht auf die Idee kamen, sich zu verpissen. Jetzt waren sie sich selbst überlassen, denn die Staatsmacht knüppelte derweil Demonstranten im Prenzlauer Berg zusammen.
Ich saß mit 20 oder 30 von den Jungs im Zug nach Hause. Nach und nach stiegen sie aus. In der Stadt mit der Gießerei und dem Reifenwerk, auf den Dörfern… Vorher zündeten sie noch eine DDR-Flagge an und schmissen sie aus dem Zug.
Ich war starr vor Angst. Bisher kannte ich nur brennende amerikanische Flaggen. Ich dachte an „Blutige Erdbeeren“. Ich wollte nach Hause zu meinem Mann und meinem Kind. Ich wollte in keine blöde Aktion hineingeraten, die mir ein paar Tage Stasiknast bescherte. Und noch weniger wollte ich vor der Stasi eine Zeugenaussage machen müssen: „Ihnen ist ihr Studienplatz doch lieb? Was haben Sie gesehen? Wer war es? Helfen Sie uns doch, Sie gehören doch zu uns!“
Von diesem Tag an wußten wir, daß der seltsame Hängezustand aufgehört hatte. Entweder kamen morgen oder übermorgen die russischen Panzer oder DDR-Bürger schossen auf DDR-Bürger oder…? Die Lösung war politisch. In den Chefetagen des Staates wurden nun die Intrigen offen ausgetragen. Honecker wurde entsorgt und der Rest des Politbüros versuchte sich mit dem Wort „Wende“ einzuschleimen. Krenz nahm die Macht, weil wahrscheinlich alle anderen gesagt hatten: „Mach du doch den Scheiß, du Streber.“ Doch bald, mit dem Fall der Mauer, passierte Geschichte. Es ist immer wieder atemberaubend zu erleben, wie sich innerhalb weniger Tage eine Epoche vollendet, der 11. September hinterließ in mir ein ähnliches Gefühl.
Die Tafel daneben zeigte ein Foto von einer Studentendemonstration an der Humboldt-Uni. Da habe ich eine Rede gehalten! Die Rede war Schwachsinn. Es ging um einen reformierten Jugendverband. Immerhin hörten mir 800 Leute zu und die Videoaufzeichnungsanlage der Stasi. Hinterher sprach mich ein Typ an, ob wir nicht zusammen eine Organisation gründen wollten, ich winkte ab.
Der Beginn dieser Demonstration, die keine richtige Demonstration, sondern eine riesige Versammlung war, war kafkaesk. Sämtliche Studenten der Kulturwissenschaften verabredeten sich in einem großen Saal in der Clara-Zetkin-Straße (heute wieder Charlottenstr.). Vorher wurden wir schon von einzelnen Dozenten bearbeitet, wir sollten auf keinen Fall hingehen. Als wir uns alle pünktlich einfanden, hieß es plötzlich von einem der Prorektoren, daß wir den Raum verlassen müßten, da er für 800 Leute statisch nicht zugelassen sei. (Lächerlich! Die Mauern waren meterdick, das Gebäude hatte schließlich auch den Krieg überstanden.) Wir sollten ins Audimax im Hauptgebäude gehen. Auf diesen 200 Metern die Charlottenstraße entlang dachte jeder von uns: ok., gleich knallts, gleich holen sie uns ab. Ich kann mich nicht erinnern, daß irgendjemand gesprochen hat, diese Menschenmasse ging schweigend. Unsere Mitstudenten von der Fakultät Krimininalistik standen ebenso schweigend am Straßenrand Spalier und überwachten dann auch die Versammlung. Von uns hatte die keiner bestellt.
Dann die Fotos von der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November. Irgendwo mittendrin hatte auch ich gestanden…
Am Abend vorher feierte mein Großvater seinen 75. Geburtstag. Mit von der Partie waren die alten „Genossinn und Genossnn“. Honeckers pensionierter Sicherheitschef, zwei Stasioberste, ein paar pensionierte Generäle. Der Justizminister hatte wohl zu tun, ich kann mich nicht erinnern, daß er da war. Die alten Männer redeten über die geplante Demonstration. Grundton: Alles Verbrecher und undankbare intellektuelle Spinner die „wir“ (wie hasse ich dieses Wort!) viel zu gut behandelt haben.
Äh… ich gehe da auch hin…, sagte ich irgendwann in die Runde. Dann ging es los. Ob ich wahnsinnig geworden sei? Da wären nur vom Westen gesteuerte Provokateure unterwegs, alles CIA-Agenten, die die Aufgabe hätten, das Volk dazu zu bewegen, in Richtung Mauer weiterzumarschieren, um die Mauer zu durchbrechen. (Mauerdurchbruch! Wie absurd erschien mir der Gedanke sechs Tage vor dem Tag Null der deutschen Zeitrechnung!) Ich solle mich nicht wundern, wenn ich im Knast lande. Da würde mich dann keiner der Anwesenden bevorzugt rausholen, ich solle sehen, wo ich bliebe…
Sie schüttelten den Kopf darüber, das das „Mädele“ seinem geliebten Großvater solche Sorgen macht…
Als ich am nächsten Tag bei meinen Großeltern anrief, daß ich zurückkäme und alles friedlich und ok. sei, war meine euphorische Mutter am Telefon: „Ja, das Fernsehen überträgt alles! Das ist ja so was von toll und lustig!“
Wenn es im DDR-Fernsehen läuft, dann ist alles wieder im Weltbild…
Und so stand ich am 22. August 2009 auf dem Alexanderplatz. Vor mir die Bilder des letzten großen Karnevals eines verschollenen Volkes und ich heulte wie ein Schloßhund.
*Ich erfuhr erst viele Jahre später, daß ich unter den Dozenten als der dritte Stasispitzel meines Studienjahres (15 Leute) gehandelt wurde. Ich hatte mir meinen Studienplatz auf ungewöhnliche Art und Weise von oben, aus der Chefetage, erkämpft. Der Dozent mit dem erschrockenen Blick soll übrigens IM gewesen sein (sagte man mir, ich habe meine Akte nicht gelesen, ich will nicht noch das letzte Stück Urvertrauen verlieren). Was nichts heißt. Sie haben vor allem die weichen, konfliktscheuen, aber ehrgeizigen Leute gekriegt. Er war, obwohl nur 5 oder 6 Jahre älter als ich, mein bester Lehrer. Und er ist auch jetzt ein hervorragender Professor, aber nicht in Deutschland.
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nein. das wort „das private ist das politische und das politische ist das private“ stimmt. vor 20 jahren habe ich begriffen, was kundera meint mit der unerträglichen leichtigkeit des seins.
ich wollte doch nicht die welt verändern, ich wollte spaß haben, eine neue perspektive – genau wie sie. (und die paar phantasten, die die welt tatsächlich verändern wollten, sortierte das leben sehr schnell wieder auf die hohen eremitenpfähle.)
Zur Wende war ich sechzehn. In dem Sommer kam eine Lehrerin fuer Russisch nicht wieder zurueck an die Schule. Im Strandbad habe ich mich das allererste Mal aktiv in ein Maedel verliebt, jeden Tag war ich dort. Mein Vater sagte im Herbst zu uns, dass wir nicht mehr zum Alexanderplatz gehen sollen. Der grossen Kundgebung am Alex hoerte ich gebannt den ganzen langem Samstag im Radio zu. Nach der Wende suchten sich meine Eltern neue Jobs. Ich kaufte mir von den 100 D-Mark eine Coke bei Coop. Meine Mutter ging mit mir im Wedding einkaufen. Sie schleifte mich in eine Kneipe, wo ich Wache vor dem Klo schieben musste. Ein paar Jahre spaeter hoerte sie auf, mit uns zu reden.
Ich finde es nach wie vor krass, dass Leuten im System, welches von einem Tag auf den anderen nicht mehr existierte, der Boden damit unter den Fuessen weggezogen wurde.
Oder du arbeitest 40 Jahre bei einer Firma und wirst auf einmal arbeitslos, weil du nicht mehr benoetigt wirst.
Uffz.
Erschreckend, wie unterschiedlich unsere Umbrüche waren, Ihrer politisch, und meiner fast ausschließlich privat motiviert – bin ein wenig peinlich berührt…
Es sind solche Einträge, die das ganze Geschehen von damals nicht unbedingt als Ganzes begreifbar, aber doch zumindest punktuell verstehbar machen.
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Ich schließe mich mark793 an; Ihre – im Vergleich zu den Geschehnissen – wenigen Zeilen sind ein Art Konzentrat der Ereignisse mit jenem gewissen anrührenden Teil persönlichen Empfindens. „Immerhin hörten mir 800 Leute zu und die Videoaufzeichnungsanlage der Stasi.“ Großartig.
Eine Frage noch:
Was bedeutet „IM“ (der Dozent) ?
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„Inoffizieller Mitarbeiter“ bitte einfach mal googlen. denn ich möchte dieses sehr konfliktbeladene feld in diesem zusammenhang hier nicht eröffnen. ich hörte nur, er soll einer gewesen sein – von kommilitonen, die ihre akte angefordert hatten.
REPLY:
ich kann mich dem dank nur anschliessen.
das liest sich sehr sehr spannend und ich erinnere mich, wie meine mutter anrief und meinte, dass die mauer offen sei.
natürlich haben wir die demos im tv gesehen, aber nicht geglaubt, dass da (ausser schüssen) etwas fallen würde.
ungläubig gingen wir zu großen frankfurter plätzen, wo plötzlich und tatsächlich hundertschaften ostdeutscher autos und menschen angelandet kamen. die beidseitige euphorie erschien mir beängstigend und …. was dann bis heute geschah ist eigentlich ein irrsinn und ich frage mich, was die alternative zu diesem geschwindigkeitsrekord gewesen wäre?
voneinander lernen?
das gute beider systeme zu vereinen?
ein romantischer traum.
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das eine ist die art, wie die wiedervereinigung passierte. letztlich war sie ein brutaler anschluß mit tiefen kulturellen und wirtschaftlichen verwerfungen.
es ist ungeheuer kränkend, seinen lebenssinn zu verlieren und das lebenswerk nebenbei für nichtig erklärt zu bekommen. das ging meinen eltern so, das geht aber auch bekannten aus dem westen so, die mit 50 auf der straße landen.
die frage ist, ob es wirklich reale alternativen gegeben hätte. die erwartungen dieses volkes, so gespalten sie waren – die einen wollten ganz schnell so leben wie im westen, die anderen wollten leben wie bisher – basierten letztlich auf der hoffnung, daß diese politische umwälzung keine negativen auswirkungen hat. wir hatten doch noch glück, wir wurden im wohlstand aufgefangen. ich möchte weder mit einem ungarischen rentner noch mit einem jungen slowaken tauschen.
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der dank freut mich. ich war selbst sehr erstaunt, wie politisch mein leben vor 20 jahren war.
Du kannst Dich tatsächlich noch an „Blutige Erdbeeren“ erinnern? An dieses „We will rock you“ und die herausgezogenen Karteikästen zum Schutz vor sichtbarer Fellatio?
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ja. dieser film lief einmal jährlich im nachmittagsprogramm des ddr-fernsehens mit anschließender diskussion des schülerfilmclubs. (bogdanowichs „last picture“ ist damals wegen obszönität gekippt worden).
außerdem hatte ich damals nichts anderes als bücher und filme…
das muss für die damals heranwachsenden eine irre spannende zeit gewesen sein. ich selber war da gerade fünf oder sechs jahre alt und habe erst die danach stattfindenden veränderungen (supermärkte! süßigkeiten! lustige taschenbücher!) mitbekommen.