Selbstmordwetter.
Ich stand über Gebühr früh auf und fuhr zu einem Termin, in dem über meine weitere existenzielle Zukunft entschieden würde. Meine Vorahnungen waren so düster wie das Wetter, aber Gott sei Dank können Vorahnungen täuschen. Die Sachbearbeiterin hatte bessere Laune als vor einem halben Jahr. Ich habe jetzt noch ein Jahr Luft und Zeit, die neue Existenz tragfähig zu machen, ohne am Monatsanfang Panik vor der Mietüberweisung zu bekommen. Bis auf eine unangenehme Sache, das Stopfen einer Gesetzeslücke per einstweiliger Verfügung, kann ich recht optimistisch sein.
Da der Termin ohne lange Warterei stattfand, konnte ich mich danach in Ruhe auf die letzte Stunde beim Unternehmensberater vorbereiten.
Wir machten eine gute Schlußrunde: es ist alles so auf dem Weg wie es sein soll und die verfahrene Kiste, mit der ich vor fast genau einem Jahr zu ihm gekommen war steht wieder ordentlich und ist nicht mehr mit lauwarmer, abgestandener Luft, sondern mit dem frischen Wind realistischer Zukunftspläne gefüllt.
Es ist jetzt alles eine Nummer kleiner, aber paßt zu mir.
Ich lud mich zur Feier des Tages zum Lunch beim Vietnamesen ein.
Nachdem ich mir zum zweiten Mal nasse Füße geholt hatte – Merke! Wer kein Auto mehr hat, braucht bequeme, wasserfeste Schuhe mit strapazierfähigen Sohlen! – gönnte ich mir gleich noch einen Mittagsschlaf. Ich bin schließlich ab dem 1. Oktober Freiberuflerin, da kann ich arbeiten, wann ich will.
Dann haute ich noch ein paar Schneisen ins Papier und telefonierte endlich mal wieder mit La Primavera. Immer schön zu merken, daß es einem Gold geht. Sie erzähte von einer gemeinsamen Bekannten, der innerhalb einer Woche die Lieblingstante gestorben war, die Tochter mit dem zweijährigen Kind wegen häuslicher Gewalt wieder bei ihr vor der Tür stand, ihr Sohn mit einem Magendurchbruch ins Krankenhaus kam und zu allem Überfluss lag noch eine Kündigung im Briefkasten. Also: es geht mir verdammt gut. Der größte Teil meiner Probleme ist mit meinem Mist gedüngt.
Dann kam noch ein langes Gespräch mit meiner Mutter. Ihre Mutter, meine „andere Oma“ hat wieder Krebs. Da sie 89 und ziemlich hinfällig ist, rät der Arzt vernünftigerweise von einer Operation ab. Bisher ist nur eine Geschwulst in der übriggebliebenen Brust zu sehen, scheinbar hat sie noch nicht gestreut. Das ist das eine. Das andere ist, daß die arme alte Frau nun wie ein Kaninchen im Autoscheinwerferstrahl hockt und die Metastasen auf sich zurasen sieht. Die Sprachlosigkeit in dieser Familie tut das ihre dazu. Hier wird nur reagiert, wenn der Druck nicht mehr auszuhalten ist.
Meine Oma redet zwar seit 39 Jahren vom Sterben, seit ihr Mann an zu spät erkanntem Darmkrebs mit nur 52 Jahren starb, und führte ein Leben auf Abruf, aber jetzt, wo der Tod vor der Tür steht, scheint es, als sei ihr ständiges Reden darüber, das Erbe aufteilen, den Countdown zählen, nur die permanente Bewältigung einer lähmenden Angst gewesen. Bei ihr hätte ich damit gerechnet, da sie auf das, was kommt, eingestellt ist. Aber das scheint nicht so. Wie auch in den vorhergehenden 39 Jahren räsonniert sie, badet in Negativität und erklärt ihre Tochter zur einzigen Bezugsperson und ködert sie mit finanzieller Unterstützung. Schon schwierig, da einen Zugang zu finden.
(Für mich ist es noch schwieriger, je älter und reflektierter ich wurde, desto mehr wandlte sich mein Mitleid in Abneigung bzw. Distanz.)
Ich weiß nicht, inwieweit ich meiner Mutter mit dem Rat, so viel wie möglich vorher mit Oma zu besprechen, solange sie noch klar im Kopf ist, Blödsinn erzählt habe. Aber jemand, der sich so intensiv mit dem Tod beschäftigt, hat vielelicht doch einen Plan oder eine Vorstellung vom Sterben.
Oh Mann.
Am Abend hatte ich dann zum dritten Mal nasse Füße, als ich eine Viertelstunde auf den überfälligen Bus wartete. Das blöde an öffentlichen Verkehrsmitteln ist, daß immer die anderen schuld sind, wenn man so wie bestellt und nicht abholt im Regen steht. Die Unmöglichkeit der Einflußnahme erhöht den Aggressionspegel enorm – und man kann nicht so die Sau rauslassen wie bei wilden Überholmanövern im eigenen Auto.
Der Rat, soviel wie möglich so bald wie möglich zu besprechen, war mit Sicherheit auf jeden Fall goldrichtig. Im Alter Ihrer Großmutter wachsen Karzinome jedoch bereits äußerst langsam und ebenso langsam entwickeln sich Metastasen; so, wie Sie die Lage beschreiben, wird Ihre Großmutter eher an ihrer eigenen Angst sterben als an Krebs.
[Bitte entschuldigen Sie, falls ich zu hart formuliert haben sollte – ich bin schon seit Jahren mit diesem Sujet enger vertraut als mir lieb ist.]
Angeblich gibt es bereits wieder elegante Überschuhe…
Nur daß sie immer davon spricht, daß sie bald sterben muß, heißt nicht unbedingt, daß sie sich mit dem Tod beschäftigt hat.
Es heißt eigentlich nur, daß sie gerne mehr Aufmerksamkeit hätte.
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ich fürchte, sie haben recht.
das proble ist nur, daß man irgendwann abstumpft und es nicht mehr hören will. und weil aufmerksamkeit auch sofort abgelehnt und kritisiert wird.
verfahrene kiste. ich kann mit solchen menschen nicht.
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stimmt. vielleicht schaue ich mich auf sardinien mal danach um.
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nee, die formulierung stimmt. wobei sie mit der angst nun fast 90 geworden ist und einige schwerste krankheiten überstanden hat.
das mit der langsamkeit des krebswachstums ist eine wichtige information, das werde ich an meine mutter weitergeben.
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denn genau so, wie die Dame sich das Recht nimmt, so zu sein, wie sie ist, können andere Menschen sich das Recht nehmen, das unerträglich zu finden und sie zu meiden, oder?
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sie ham ja recht (warum glaube ich immer, daß ich alles aushalten muß?)