Sonntagsmäander mit Vorweihnachtsrant

Sonntagsmäander mit Vorweihnachtsrant

Keine weihnachtliche Harmonie in Blogsdorf. Es ist 2016, ich hatte es fast vergessen.
Ein Tod, der mich still macht. Das, was ich zu diesem Menschen erzählen könnte, ist eine amüsant-groteske, zynische und scharfzüngige Geschichte, dafür ist es jetzt aber nicht an der Zeit.
Ich glaube, wir mochten uns nicht. Ich war nicht ansprechbar und verfügbar. Ich kannte die Tricks, solche Menschen hatte ich schon einmal zu oft getroffen.
Aber man muss nicht von allen gemocht werden und nicht alle mögen. Es reicht, sich sein zu lassen und sich zu respektieren, wenns heftig kommt, dann muss man sich halt aus dem Weg gehen.

Was mich zum nächsten Thema bringt. Was macht man mit Menschen, die man gern las, von denen man gern hörte, deren Meinung und Wissen man schätzte und die plötzlich anfangen, sich auf den sozialen Kanälen mit Gewichtsreduktion zu beschäftigen – inklusive Abnehmbuch-Fangirlhashtags, Kalorienzählen und Gewichtszielmarken nennen?
Drüber weglesen? Muten? Den Wegfall der anderen Themen bedauern? Was ich darüber denke, habe ich schon hier und hier aufgeschrieben.

Ich habe seit ich 19 war, in Branchen gearbeitet, wo es bei Frauen immer um das Aussehen ging und gutes Aussehen und Erfolg waren zu 90% konotiert mit einer schlanken Figur – die sich über die Jahre mit einem veränderten Schönheitsideal in Richtung hagere Leistungssportlerin bewegte.
Ich habe es hier nicht nur einmal geschrieben. Die Körper, die wir da sehen, sind Ergebnis eines Fulltimejobs (Kate Winslet ist ein gute Beispiel). Nur wenige haben die genetische Voraussetzung, daran nicht arbeiten zu müssen. Wenn Menschen, zu deren Jobanforderung „schlanker Körper“ gehört, nicht in einem Projekt sind, sehen sie aus wie wir, also leicht bis schwer angefettet. Sie geben nur diese Fotos nicht raus.
Die Promi-Abnehm-Erfolgsgeschichten, die ich aus der Nähe sehen durfte, obwohl sie auch in der Bl*d-Zeitung gehyptes Thema waren, waren im Hintergrund meist tragisch. Die junge zierliche Turnerin, die nie richtig essen durfte und mit 38 Kilo unter ärztlicher Beobachtung stand, aber soooo schön war, bis sie sich normal ernährte und hautzerfetzend „explodierte“. Drei Frauen, die sich aus dem Typ „lustige dralle Blonde“ rausgehungert hatten und nur noch bleich und angestrengt rumwankten und sich wunderten, dass sie nicht wesentlich mehr Jobs angeboten bekamen.
Die Moral von der Geschicht? Am Schluss waren sie entweder (wieder) dick oder todkrank. Keine ist auf der neuen Umlaufbahn geblieben.

Ich bin ja nicht vernagelt. Natürlich habe ich auch irgendwann das Buch gelesen, das die Geschichte einer erfolgreichen Gewichtsreduktion beschreibt und das in meiner Filterblase seit zwei Jahren herumgereicht wird. Meine Gedanken: Aha, klingt interessant, aber irgendwann am Ende nicht mehr gesund, sondern leicht manisch. Eine Sucht durch die andere ausgetauscht, das ist nicht meins.

Und wenn ich die Early Adopter höre, die beklagen, dass sie nicht immer die Motivation haben durchzuhalten und konsequent zu sein… Leute, führt ihr Krieg gegen euch selbst oder lebt ihr?
Die Freundin, die sich vor 12 Jahren das Versprechen gab, in Zukunft nie mehr als 60 Kilo zu wiegen und das in meinen Augen sehr entspannt und gut hinbekam (bis auf die Momente, wenn sie denn mal aß und in plakatives Genuß-Stöhnen ob des ersten Bissens ausbrach), steht trotzdem mit Mitte 50 kurz vorm Diabetes, hat seit Jahren schwere Bandscheibenprobleme und beziehungstechnisch ist es immer wieder kompliziert.
Aber sie hatte 12 Jahre die Überlegenheit, gesellschaftlich akzeptiert attraktiv zu sein, grenzte sich damit von ihrem Normalo-Umfeld ab und konnte problemlos billig Klamotten auf ebay kaufen, weil es ihre Größe massenhaft gab. Dafür ist Dünnsein durch reduzierte Nahrungsaufnahme scheinbar eine gute Lösung.

Ich denke immer noch darüber nach, was mich so stört am exhibitionistischen Abnehmen. Es ist kein Verrat an feministischen Idealen, wenn jemand sein Leben ändert. Handeln und Selbstermächtigung sind immer gut.
Aber: Das Prinzip Frau=öffentlicher Körper kommt plötzlich wieder hoch. Was ist der Unterschied zwischen den „das sind meine Beauty-Tipps und hier ist mein nächstes Selfie“-Hotbabes auf Instagram und ihren Herden von Groupies und der unter einem Hashtag versammelten Frauengruppe, die sich unter Aufdeckung intimer Daten gegenseitig anfeuert, einer gesellschaftlich akzeptierten Norm Ideal zu entsprechen?
Jetzt ernsthaft mal.

Sicher stört mich auch nicht der Fakt, dass jemand in eine andere Lebensphase kommt und was tun muss und will, um sich wohl zu fühlen und sich neu erfindet. Im Gegenteil. Ich finde es cool und habe einen Heidenrespekt, wenn jemand sich konsequent, vielleicht auch gegen Widerstand des Umfeldes, Gutes tut.
Ob das mit Abnehmen allein funktioniert, weiß ich nicht. Es ist oft die naheliegendste Lösung, „wenn ich erst mal dünn bin, dann…“. Dann sind Probleme noch lange nicht gelöst, auch wenn der Körper nicht mehr unter Überernährungs-Volllast läuft.
Oft ist der Panzer, den man sich anfrisst, auch Symptom einer Lebenssituation. Was heißt, ändert sich das Setting nicht, ist die Reduktion Ausnahmesituation und bald alles wieder beim Alten.
Es sei denn, das neue Setting ist Gewicht halten: 4-5 mal in der Woche Sport, immer reduziert essen, ständige Selbstkontrolle. Wers mag. Da habe ich lieber Sex.

Vielleicht nervt mich, dass es plötzlich in meiner Umgebung so laut ist. Instagram ist schnell, bunt und präsentabel, fix ein Foto rüberschieben, so wie es alle anderen machen, Herzchen abgreifen…
Es ist jetzt ja das Gute, das Erwünschte, das Verhalten mit dem man geliebt wird und dann auch noch Schwestern zu treffen… Fans eines Buches und einer Abnehm-Methode sind wie Benedict-Cumberbatch-Fans oder Katholikentagsteilnehmer. Ziemlich fokussiert und für die Außenwelt anstrengend.
Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, wie mich in Diäten der Hunger und der viele Sport geflasht haben. Alles hatte eine leichte Aura, ich war immer einen Tick zu laut, zwanghaft auf das Thema Gewicht und Ernährung fokussiert und dachte, ich habe nun endlich begriffen, wie es funktioniert. Bis ich mich wieder entspannte und zunahm.
4-5 Jojo-Effekte später mache ich so was lieber im stillen Kämmerlein mit mir selbst ab. Ich habe in den letzten 12 Monaten 7 Kilo abgenommen. Es wäre mir nicht großartig in den Sinn gekommen, den Weg dahin zu thematisieren. Es ist keine Leistung, wirklich nicht. Es ist Gleichgewicht und auf sich hören. Es ist für mich etwas Intimes.

Darüber hinaus: Als ich in die Nähnerd-Szene eintauchte, faszinierte mich die Mischung: Dass coole, kluge Frauen zum Thema Kleidung  über nachhaltige, technisch-ästhetische Dinge nachdachten, experimentierten und arbeiteten oder einfach nur Spaß mit buntem Stoff hatten. Es ging darum, den Körper gut zu kleiden, Stoffe und Schnitte so zu verändern, dass Kleidung stilistisch eigen, bequem und nicht mehr langweilig normiert war. Da hatte sich viel entwickelt an technischem Wissen und Gestaltungskraft, einer ganzen Untergrundbewegung von anwendbarer Gestaltung. Für jeden, nicht nur für einer Konfektions-Norm oder einem bestimmten Alter entsprechenden Frauen.
Einige Bücher sind erschienen, ein Schnittlabel war geboren, ein nächstes reift noch, wie ich hörte und ich bin sehr gespannt darauf.
Ich habe von all dem Wissen und Tun enorm profitiert und für mich ist das auch noch lange nicht durchgespielt, denn das Netzwerk von Frauen bietet mehr als Stricken und Nähen. Da ist viel Wissen, da sind Wohlwollen, Respekt und verschiedene Weltsichten. Dagegen ist ein Essensfoto mit den Abnehmkampagnenhashtags und der Info, dass das jetzt drölfzig Kalorien sind, ein stilistischer und inhaltlicher Rückfall in die Steinzeit bunter Frauenklatschpostillen.
Sorry, da hatte ich mehr erwartet. Können wir statt dessen mal wieder über was Interessantes und Fundiertes reden?

12 Gedanken zu „Sonntagsmäander mit Vorweihnachtsrant

  1. Alles gut, alles schön, vieles richtig, was du sagst – aber gleich zu Beginn stehe ich wieder draußen vor der Tür:
    „Die Körper, die wir da sehen, sind Ergebnis eines Fulltimejobs (Kate Winslet ist ein gute Beispiel). Nur wenige haben die genetische Voraussetzung, daran nicht arbeiten zu müssen. Wenn Menschen, zu deren Jobanforderung „schlanker Körper“ gehört, nicht in einem Projekt sind, sehen sie aus wie wir, also leicht bis schwer angefettet.“

    Ich könnte jetzt einfach nur denken, ich sei ja irgendwie mitgemeint, zumindest wenn du von genetischer Voraussetzung schreibst – aber die Genlotterie bescherte mir dazu natürlich nicht automatisch festes Bindegewebe, tolle Zähne und Sportlermuskeln. Aber sobald du schreibst, „… sehen aus wie wir, also leicht bis schwer angefettet.“ Tja, dann bin ich wieder mal kein Wir, wieder mal nicht dabei, wieder mal außerhalb der Norm. Weil ich in der noch kleinerern Minderheit bin. Schaue ich mich in meinem Freundeskreis um, dann finde ich: vier Frauen, die sehr schlank und bis auf eine zu meinem persönlichen Leidwesen SEHR sportlich sind, drei Frauen, die deutlich dick sind (und welch Ironie des Zufalls – meine besten und engsten Freundinnen seit ewigen Jahrzehnten) und eine, die zu dünn genannt werden könnte, wenn man sich das bei ihrer Rockerattitüde wagen würde :-D Irgendwie Durchschnitt ist keine. Mit mir sind es dann fünf sehr Schlanke. Und wir finden uns in all diesen Texten, die suggerieren, eigentlich sei frau eher mollig als schlank nie wieder :-(

    Das ist natürlich keine fundierte Auseinandersetzung mit deinem Text, aber zeigt ein häufiges Problem möglicher Verständigung: Selbst Texte, die von politischer Befreiung einengender Schönheitsideale sprechen oder von Selbstakzeptanz spricht die Mehrheit meiner Freundinnen konkret nicht an – obwohl sie den gleichen Ansprüchen, dem gleichen Druck und den gleichen Zweifeln ausgesetzt sind wie alle anderen Frauen auch. Ich finde das schlicht traurig.

    • Im Abnehmbuch sind Menschen mit deiner Körperlichkeit mit gefasst. Unter der Kategorie „skinny fat“. Also im Normgewicht oder fast zu dünn, aber trotzdem optimierungsbedürftig.
      Ich würde eher leptosom sagen. Aber wir wollen ja alle athletisch wie die griechischen Statuen aussehen.
      Ich finde das Schmarrn. Selbst Schauspielerinnen und Models, die sich nur von Proteinen oder gleich von Infusionen ernähren, brauchen wochenlang stundenlanges Workout zum Muskelaufbau und zum Fettabbau (und bei Frauen sollten es dann bloß nicht zu viel Muskeln sein, weil das einschüchternd wirkt). Oder sie werden für ein schnelles Fotoshooting getapet (die Haut wird gestrafft und in den Zonen außerhalb der Kamera zusammengeklebt). Wenn man sich die Leute mit der „tollen Figur“ anschaut, dann sind das bei den Männern vor der Kamera die kleinen, weil da Muskelaufbau durch Krafttraining an den eher kurzen Muskeln schnell zu sehen ist, auf dem Laufsteg sind sie dann auch besser groß und extrem mager. Bei den Frauen vor der Kamera gern die ganz zierlichen, schmalen und auf dem Laufsteg die großen ohne ein Gramm Fett und mit extrem langen Beinen. Allen ist gemein: Sie sollten bloß nicht alt werden.
      Vor der Kamera macht es dann auch die richtige Klamotte. Wo wir wieder bei guter Passform wären…

      It’s Fleischmarkt, Baby, das hat nichts mit normalen Menschen zu tun. Oder besser, man wählt sich die richtige Sorte für die richtige Botschaft aus.

    • (Vielleicht ist es völlig abwegig, aber mir kommt grade hoch, wie viel Herrenmenschensehnsucht in dem angestrebten Ideal des athletisch geformten, schlanken Menschen steckt.)

    • Hmm, zunächst einmal beziehe ich mich ja nicht auf das Buch, das ja nichts anderes tut, als Studien auf ihre Fakten hin zu überprüfen und manche Mythen zu zerstören. Das hat auf viele die Wirkung gehabt, sicher hinter eben jenen Mythen nicht mehr zu verstecken. Damit erreichte es natürlich nur diejenigen, die mit ihrem Ist-Zustand nicht zufrieden waren und nun motiviert lieber diesen Zustand als die Gesellschaft ändern mochten. Aber wie gesagt, darauf beziehe ich mich gar nicht. Ich beziehe mich ausschließlich auf deinen Text, der ein „Wir“ formuliert, das mich ganz klar ausschließt, aber ein wenig so tut, als wäre es ein „wir“ für alle und mit allen. Und daran kranken vermutlich viel zu viele Diskussionen, die sich um das Äußere drehen, egal mit welchem spezifischen Inhalt.
      Dass es heute nicht besser ist als zu den meisten Zeiten und Äußerlichkeiten nicht nur betrachtet, sondern auch be- und gewertet werden – es muss wohl etwas zutiefst menschliches sein, sich so zu verhalten. Das ist traurig, aber nicht dadurch zu ändern, in dem Frauen, die sich um ihre Gesundheit, ihre Fitness und/oder ihr Äußeres in welcher Form auch immer kümmern, als tendenziell unverständig, gesellschaftsschädlich oder sonstwie verkehrt dargestellt werden. Denn auch, wenn dieser direkte und persönliche Angriff als solcher nicht beabsichtigt war, so wurde er doch von den meisten so empfunden – einfach, weil deren Argumente als nicht relevant ausgeblendet wurden.
      Dass Teile der Gesellschaft, insbesondere der Unterhaltungsindustrie und Mode, an zum Großteil unerreichbaren Idealen bastelt und durch die heutige Technik und Selbstverliebtheit da einiges tun kann – ja, Mist! Das schadet unserem Selbstbild und unserer Entwicklung mit Sicherheit. Ich erinnere mich an die erste Cellulitecreme, die auf den Markt kam, Ende der 80er, als wir alle noch gar nicht wußten, wie das hieß, was manche von uns störte, die meisten es aber gar nicht sahen. Biotherm war die Firma und das Werbeplakat zeigte eine weibliche Rückseite von Knie bis Taille: braune, stramme Beine, ein weißes, hochgekrempeltes Sporthöschen vor Strand und blauem Himmel. Das Bild wurde mit viel Licht und Filter geschoßen, das Model war eine 18jährige Leichtahtletin. Doch weil das noch nicht gut und glatt genug war und das Retuschieren mannshoher Plakate im Detail nicht so überzeugend aussah, hing man das Mädel über Kopf, damit die Haut und der Po noch straffer aussah … heute wären wir über solch harmlose Taschenspielertricks sicher dankbar …

  2. Kann man denn das Thema Gewicht nicht auch losgelöst vom Feminismus betrachten? Manche Fraeun nehmen aus gesundheitlichen Gründen ab, manche weil sie wieder in ihr Lieblingskleid passen wollen, manche weil sie nac der Geburt durch stillen „automatisch“ Gewicht verlieren, manche vielleicht auch um dem Partner zu gefallen. Wo ist das Problem? Ich verstehe, dass es eine Untergruppe des MMM gab (gibt?), die sich als Retterinnen des Feminismus über Kleidernähen sehen. Ich meine das ganz Unsarkastisch. Ist halt eine Weltsicht. Andere -wie ich- haben andere Gründe teilzunehmen. Keine Gruppe ist besser oder schlechter, weil sie etwas aus einer anderen Motivation heraus tut.

  3. @Kiki – ein Schuh, der beiden Fraktionen passt.
    Wie wäre es, wenn jede/r zu- und abnehmen dürfte, wie es ihr gefällt? Und auch darüber berichten darf? Wer es lesen mag, liest es, wer nicht, überliest es.

    Und wenn wir einfach nicht den Untergang der Zivilisation daran festmachen, ob jemand dick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß, Mann, Frau, was anderes, homo, hetero, Golfer, Fußballer, Schachspieler, Christ, Hindu, Atheist usw sein möchte, sondern einfach den anderen so sein lassen, wie sie sind und versuchen, gut mit ihnen auszukommen?
    Man müsste sich nicht echauffieren und nicht beleidigt sein, und hätte mehr Zeit für due wichtigen Dinge des Lebens.

    • Wenn Sie den Artikel genau lesen, werden Sie merken, dass es nicht um Pro und Contra geht, sondern um Kommunikation und Influencerbotschaften und ihre Veränderung.
      Und um meine persönlichen Erfahrungen mit dem Thema und meine Meinung zu einem populären Buch.
      Mit „jede wie sie will“ rennen Sie hier mit Anlauf durch eine ohnehin offene Tür.

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