Gestern habe ich kapituliert. Wir haben Mitte Mai die Heizung angeschaltet. Für mich eigentlich unausdenkbar, wenn auch irrational, denn wenns kalt ist, kann man heizen. Aber es steckt eben tief drin, wenn das Heizwerk, das den Plattenbau versorgte den man als Kind bewohnte, Mitte April eine Stufe abschaltete und nur noch warmes Wasser produzierte.
Der Graf lockte mich gestern in Richtung Kudamm. Eigentlich nur in einen Laden, aber da das, was wir sehen und probieren wollten, indiskutabel war, wurde doch ein kleiner Einkaufsbummel daraus. Gegen Konfektion bin ich mittlerweile größtenteils immun. Warum sollte ich für eine Leinenbluse 99 Euro auf den Tisch legen, wenn mein Schrank voller Leinenstoffe ist und die Arbeit zwei Abende kostet? Wenn ich was Nettes entdeckt habe, brauche ich nur nach innen zu schauen: lieblos im Akkord abgekettelte Nähte. Der Luxus des Selbstnähens inkludiert auch den Luxus, sich die Kleidung innen zu schaffen wie ein kleines luxuriöses Futteral.
Bei Karstadt am Tauentzien, nur noch ein Schatten des Wertheim-Kaufhauses alter Westberlin-Zeiten, wurden wir dann fündig. 3 Shirts mit kleinem Kelchkragen von Mexx, scheinbar der letzte Rest der sehr coolen Teil-Kollektion des insolventen Herstellers.
Was Jeans und fummelige kleine Jerseys angeht – das überlasse ich gern der Industrie. Dafür stricke ich lieber Spitzentücher.
(Was es mir bedeutet, wenn der Gatte sagt, er wolle mit mir einkaufen gehen, ist noch einmal eine ganz anderes, herzchenumschwirrtes Thema…)
Dann saßen wir noch bei ehemals Gosch. Dort habe ich vor Kudamm-Theater-Premieren, die ich berufshalber besuchte, immer gegrillte Scampi gegessen, die bestellte ich natürlich wieder. Das Personal ist …eigen. Man identifizierte uns wohl als wenig solvent, lavierte uns fix aus der neu gestalteten Surf&Turf-Area raus („Hier ist alles reserviert!“), ins leicht schrappelige Ambiente des Alt-Lokals im Nebenraum und die Kellnerin hatte wohl die Anweisung, jedem Tisch erst mal ne große Flasche Wasser (also 0,75l) für 5,90€ zu verkaufen. Quasi als Grundgebühr. Die Touristen neben uns taten das brav, wir lehnten es ab und wurden deshalb bei jedem neuen Gang am Tisch vorbei gefragt, ob wir noch was bestellen wollten. Muß man mögen. Die Scampi waren gut, des Grafen Backfisch auch und darauf kippten wir einen Rosé-Cremant und sahen zwei Demonstrationen den Kudamm entlang ziehen. Die RetterInnen rumänischer Straßenhunde waren zwar zahlenmäßig unterlegen, aber wesentlich lauter als die nachfolgende politische Demonstration mit roten Fahnen, gelben Sternen und Menschen mit Kopftüchern.
Mäandern wir mal zurück. Der Herr Schneck hatte am Freitag abend gemeinsam mit Klaus Mellenthin zur Vernissage eingeladen und wir verlebten ein paar nette Stunden, im tiefen, noch nicht gentrifizierten Neukölln. Ich mochte des Herrn Schneck Bildkommentare zu kundenorientierter und sehr schöner Modefotografie sehr. Bitte gehen Sie unbedingt hin, es lohnt sich.
Überhaupt der Freitag. Ich bretterte wie blöde mit dem Grafen per Fahrrad die Straßen entlang in Richtung Emser Straße. Ich musste erst mal runterkommen, nach diesem Brückentag im Büro, der sich zumindest bis 3 Uhr nachmittags, bis die Kundenseite ins Wochenende ging, als ziemlicher Höllentag erwies. (und ich habe davon nur die Hälfte mitbekommen, der Chef hatte schon am Himmelfahrtstag 10 Stunden lang Notfälle abgearbeitet)
Kurzer Kommentar zum Stand des Arbeitslebens: Ich kann sicher mit steigenden Branchenkenntnissen noch effizienter werden. Das kann mich bei sehr hoher Arbeitsdichte retten, wo alles Schlag auf Schlag kommt, die neuen Vorgänge kein Ende nehmen und man ständig Vorgänge priorisieren und diese Priorisierung meist noch gut kommunizieren muss. So ein bisschen wie in der Notaufnahme im Krankenhaus. Wer bewusstlos ist und/oder blutet bzw. nicht atmet, hat Vorrang. Und trotzdem ist Gemecker über zu wenig Zuwendung und zu lange Wartezeiten grade von den Leuten, die noch in der Lage sind, sich aufzuregen, vorprogrammiert.
Dieses Multitasking ist einfach vorbei, früher konnte ich das souverän und es machte mir sogar Spaß. Ab einem bestimmten Punkt arbeite ich heute mit einer ganz üblen Fehlerquote, da kann ich das Grundrauschen des: Und DAS noch und vergiss DAS nicht! nicht mehr ausblenden und das macht mich fertig. Zumindest bin ich gegenüber dem letzten Volllast-Test am Gründonnerstag souveräner und schneller geworden.
Aber dominierende Gefühl ist, ich habe das, was ich da mache, alles schon mal durchgespielt. Auch wenn ich gut bezahlt und behandelt werde und das Team sehr angenehm ist. – Die zeitweise extrem hohe Arbeitsdichte, womöglich sogar demnächst Homeoffice abends und am Wochenende (was ich Idiot selbst angeregt habe, ein großer Teil von mir denkt immer noch unternehmerisch), dafür ist selbst die gute Bezahlung, die ich bekomme, nichts, was mich motivieren würde. Vielleicht, wenn ich das Doppelte bekäme, zwei Drittel vom Netto sparen könnte und die Aussicht hätte, das alles wäre endlich. (Aber ich komme in Genöle auf hohem Niveau…)
Sprung nach Berlin. Hier ist die Antwort auf meine Frage, warum in Berlin immer mehr internationale Verrückte unterwegs sind: Sie bewegen sich außerhalb ihrer sozialen Kontrollmechanismen und die Stadt kann sie (noch) veratmen.
Interessant fand ich in dem Zusammenhang auch, dass die Psychiatrie zunehmend soziale Probleme eingeliefert bekommt und damit ist nicht der klassische aus der Bahn geratene Penner gemeint, sondern Menschen, die Wohnung und Arbeit verloren haben. Lebenskrisen werden pathologisiert, weil das fast der einzige Weg ist, Unterstützung zu bekommen und dem Überlebens-Druck zu entrinnen.
Natürlich frage ich mich dabei, ob ich nicht in einem anderen sozialen Umfeld, als dem, das ich mir gewählt hatte, anders hätte mit meiner Überarbeitung, dem sich schon lange nähernden Ziel meines Jobs und den nötigen Veränderungen in meinem Leben hätte umgehen können. Diese Gemengelage zu pathologisieren war damals die entpflichtendste Lösung, sonst wäre ich in der Spirale von „selbst schuld“ erstickt. Ich bin wie viele andere so konditioniert, dass Krankheit die einzige Entschuldigung ist.
Damit springe ich zum nächsten Thema, das mich seit einer Begegnung Ende der Woche bewegt. Wir haben irgendwann mal unsere sozialen Bindungen effektiviert und modernisiert. Weg von der schwerfälligen, energiefressenden Familie und langfristigen Paarbindung, die kaum Fehlerkorrektur und Entwicklung erlaubt und Kursänderungsgeschwindigkeiten hat wie ein Öltanker. Hin zu Lebensabschnittsbeziehungen oder gleich nur Freunden, Affären und einem „sozialen Netz“, das flexibel ist und sich den Lebensumständen anpasst. Sich den Lebensumständen anpaßt…
Was, wenn sich die Lebensumstände so ändern, auf einen Schlag, dass das Umfeld nicht mehr dazu passt? Wenn es zum Besseren geschieht, kein Problem. Was wenn dem Großstadtsingle, der Dauerfreundin, einer der zahlreichen Bekannten plötzlich etwas passiert, das alle bestehenden sozialen Rituale unmöglich macht und andere Anforderungen an den Kontakt stellt? Krankenhausbesuche. Viele, nicht nur der Anstandsbesuch. Dreckige Wäsche waschen, Jammern, Wut und Todesängste anhören. Sich jemandem widmen, der plötzlich verfällt, unattraktiv und kraftlos ist, verkommt und schlecht riecht. Nach dem Ende eines Krankenhausaufenthaltes mit einwohnen oder jemandem ein Gästezimmer bereit stellen. Zur Krankenpflege bereit sein, finanzielle und materielle Unterstützung geben, ohne zu wissen, ob da etwas zurückkommen kann. Familie und „in guten wie in schlechten Zeiten“-Beziehungen können und sollen das leisten. Können das wirklich die Freundinnen und Freunde? Können wir das von ihnen verlangen?
Klar gibt es die plakativen Heldentaten. „Ich war im Hospiz und habe mich um einen alten Menschen gekümmert und habe soooo viel zurückbekommen!“ Sich um jemanden mit dramatischer Krebserkrankung kümmern, vor allem verbal über Twitter. Sich bei der Freundin ablösen, die schon in frühen Jahren erkrankt, weil man selbst noch in der Überzahl und fit ist und weil es das erste Mal ist, das so etwas in diesem Umfeld passiert.
Als es mich damals erwischt hatte, war ich glücklich über die Unterstützung und die vielen kleinen Gesten. Das „Wenn du Rückzug brauchst, komm her“, dass ich einfach mit Blumen versorgt und zu unterhaltsamen Nachmittagen abgeholt wurde, Besuch bekam…
Aber ich musste nie über eine Grenze gehen, wo es anstrengend und verpflichtend geworden wäre. Glaube ich zumindest. Eine kleine Idee bekam ich davon, als ich drei Wochen mit Magen-Darm-Grippe allein in meiner Wohnung lag und es nicht besser wurde oder ein paar Jahre vorher, als Nachwirkungen einer OP übler waren, als ich erwartet hatte. Hätte ich jemanden in diesem Zustand wirklich in meine Nähe lasse wollen? Hätten das Menschen gekonnt, die mich nie wirklich nah kennengelernt haben? Hätte ich mich überwinden können, für kleine Handlungen jemanden durch mehrere Stadtviertel zu mir zu rufen? Es geht ja oft um kleine Dinge. Essen kochen, Wäsche waschen, ein Bett beziehen, einen Reißverschluss zumachen, etwas hinterm Schrank vorholen, den Rücken zu kratzen. Wo ein Mensch, der mit einem lebt, einfach kurz rüberlangt oder eine halbe Stunde erübrigt und damit auch für sich selbst sorgt.
Das ist den Lebensplänen der flexiblen Großstadtsingles nicht so richtig vorgesehen. Noch nicht.
Klar kann man diese Versorgung auch einkaufen, wenn man genug bezahlt, sicher auch mit der liebevollen Note im Stil von Hausfrauenputz und Girlfriendsex. Man kann alles kaufen. Wenn man das Geld hat und ausblendet, dass es eine Dienstleistung ist.
Edit: Wir stellen je gern Liebe auf so einen hohen Sockel und meinen damit meist den Hormon-Rausch der Anfangszeit, wo man sowieso immer einer Meinung ist und aneinanderklebt. Aber ganz eigentlich ist Liebe eben auch das Aushalten eines unerträglichen Zustandes, in dem man trotzdem in der Nähe bleibt und nicht wegrennt, weil es grade keinen Spaß macht.
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