Vigil 75

Ein wunderbarer Frühsommertag, die sehr sympathische Frau Caro kennengelernt. Einmal am Maybachufer rauf und runter, natürlich brauche ich keinen neuen Stoff und komme doch mit sorbetfarbener und schwarzer Tüllspitze, gelbschwarzem Paysley und geranienrotem Jersey wieder. Erstere für zwei Wickeltops, mittleren für einen Dreiviertelteller und letzteren für Nachthemden.

Dann etwas schlafen und an den Goldfischlein weiterarbeiten.
fischi

Am Abend ein türkisches Essen mit Frau Mamamachtsachen. Dann zurückradeln mit Vollmond, Sprossergesang und duftenden Robinien.

Der Tag war durch und durch nähnerdig. Frau Kaltmamsell war im Fashion Museum in Bath und wunderte sich, dass bis auf das Kleid von Königin Victoria nur Kleidung für schlanke Figuren ausgestellt war.

Nun stellen sich mir aus dem längeren Kommentar-Dialog auf Instagram einige Fragen. Ich verpacke sie mal in Thesen:

  1. Das Fashion-Museum stellt tatsächlich nur Modelle aus, die unserem Begriff von modisch-schöner Kleidung entsprechen, also für schlanke und zierliche Menschen. Die Modelle für nicht schlanke Menschen bleiben im Fundus.
    Das lässt sich sicher durch Nachfrage klären.
  2. Die ausgestellten Modelle sind die, die erhalten sind. Sie passten sonst niemandem bzw. konnten nicht mehr umgearbeitet werden und blieben deshalb irgendwo für weitere Verwendung liegen und wurden vergessen. (Das habe ich und auch andere so gehört.)
    Das entspricht dem, das gesagt wird, dass die Stoffe, die für die Kleidung der Oberschicht verwendet wurden, so wertvoll waren, dass sie bis zum Auseinanderfallen aufgetragen wurde und die Materialien immer wieder in andere Kleidung umgeschneidert wurden – für ärmere Verwandte oder neue eigene Kombinationen – so dass sie sich am Schluss auflösten oder eben nur noch kleinen und sehr schlanken Menschen passten. – Was auch die Vorstellung nährte, unsere Vorfahren wären alle extrem klein, zierlich und dünn gewesen.
    Das deckt sich ebenfalls mit meiner Beobachtung. Letzte Woche sah ich eine Kleidungssammlung von ca. 1750 bis in die 1980er. Die Kleidung der vorindustriellen Zeit (d.h. Ausführung und Verzierungen sind Handarbeit, schöne Farben sind nur auf Wolle und Seide möglich) waren ausschließlich schmale und schlanke Modelle, spätere Kleidung war für alle Figuren gemacht. Diese Sammlung war komplett ausgestellt, da war nichts im Fundus, weil es für nicht normgerecht oder unattraktiv gehalten wurde.
    Das deckt sich ebenfalls mit der Beobachtung, dass Vintage-Eingrößenschnittmuster vorwiegend in sehr kleinen Größen erhalten geblieben sind – diese wurden selten verwendet und bleiben liegen.
  3. Das Weiterverwenden von Kleidung innerhalb höherer Gesellschaftsschichten gab es in England nicht. Kleidung wurde höchstens an Dienstboten weitergegeben.
    Gegenthese: Wo bleibt das Distinktionsmoment, wenn die Zofe transparentes Musselin und bestickte Seide trägt?
    War England so reich, dass man sich modische Unikate leistete und diese nach Verwendung liegen ließ?

Ich würde da sehr gern Licht ins Dunkel bringen, das interessiert mich.

PS: Aha, es gibt tatsächlich im 18. Jahrhundert einen großen Unterschied in der Kleidung der kontinentaleuropäischen Oberschicht und der englischen. Das schlägt sich auch in Namen wieder. Es gibt die Robe à l‘ Anglaise und die Robe à la Française.
Der Kleidungsstil des englischen Landadels ist schlichter, praktischer und mehr Understatement. Der französische Stil zitiert selbst fern von Paris die Kleidung der Salons und der Höflinge, was sich in verspielten Details und Silhouetten und Unmengen von Stoff äußert.
Mit der französischen Revolution wird mehr und mehr der englische Stil beherrschend.

Das erklärt die Frage, ob englischen Damen ihre Kleider auch an Dienstboten weitergaben.
Die Frage, warum in Bath nur Kleider für schlanke Menschen zu sehen sind, ob das ein Konzept ist, klärt es nicht, da werde ich nachfragen.

Edit: Suschna hat den Impuls aufgenommen, was mich sehr freut.

5 Gedanken zu „Vigil 75

  1. Die Lieblingshausziege hat sich – sie will ja das Schneiderhandwerk lernen – anlässlich der Ausstellung im Nürnberger Museum im dortigen Buchladen ein Buch gekauft: „Fashion – eine Modegeschichte vom 18. – 20. Jahrhunderrt“, in diesem ist die Sammlung des Kyoto Costume Institutes beschrieben und in unglaublich vielen schönen Fotografien belegt. Leider steht kein Wort davon, wie die viele europäische Kleidung nach Japan gelangt ist, dafür aber vieles Interessante über die Kleidung und deren Herstellung.

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