Mit einem kleinen Kapitel Exorzismus. Aber davon später.
Da ich großspurig meine Wanderschuhe eigepackt hatte und am letzten Arbeitstag noch per Expreßversand ein Wanderführer ankam, gingen wir natürlich auch in die Berge. An einem verregneten Tag stiefelten der Graf und ich durch die Wälder bei Agnetendorf. Mich interessierte, ob es Pilze gibt, aber scheinbar werden ab ein paar hundert Meter Höhe die Nächte so kalt, dass selbst warme Tage und Feuchtigkeit keinen Pilz herbeizaubern.
Überhaupt, die Wettervorhersagen. Meine Wetter-App behauptete in der Vorhersage konsequent 7-8 Grad weniger als in der Realität. Wenn ich morgens gegen 9 Uhr draufschaute, hieß es, es würden 8-16 Grad, die derzeitige Temperatur sei aber 18 Grad, in Laufe des Tage wurden es dann 23-25, die Wetter-App behauptete weiterhin stoisch, am nächsten Tag würde die Höchsttemperatur 14 Grad betragen und es wurden wieder mehr als 20.
Erst dachte ich, das seien Temperaturen vom Riesengebirgskamm, direkt in Sichtweite aus dem Fenster war ja eine große Wetterstation, aber dazu passten die realen Temperaturangaben nicht, oben war es tatsächlich wesentlich kälter.
Die Vermutung liegt nahe, dass da jemand am Algorithmus geschraubt hat, um gute Wintersportvorhersagen zu bekommen.
Aber weiter mit Wandern. Wir liefen bergan durch nasses Unterholz, weil uns ein Schild, das uns zur Bismarckhöhe und zum Bismarckmuseum verwies, neugierig gemacht hatte. Aber da oben war alles videoüberwacht, verschlossen und verrammelt, ein Auto stand auf dem Grundstück und ein riesiger Hund bellte.
Im Schloss sagte man uns, es heiße, da sei einer hingezogen der etwas verrückt sei.
Zwei Tage später planten wir eine Bequemtour zur Elbquelle. Seit ich 2002 auf Skiern dort war – an einem wunderschönen sonnigen und windstillen Tag und fast ohne andere Menschen – wollte ich den Ort im Sommer sehen. Wir planten, uns den langen Aufstieg zu sparen und wollten von Schreiberhau den Lift nehmen. Nur war die erste Lifttrasse geschlossen und wir liefen zunächst den Berg hinauf bis zur zweiten Station, die den wesentlich steileren Teil absolviert. Oben auf dem Reifträger strahlte die Sonne, pfiff der Wind und stapelten sich die Leute, aber egal. Wir wollten einen vierstündigen Rundweg machen und kalkulierten ein, anschließend zu Fuß abzusteigen, denn wie immer waren wir erst spät losgekommen.
Aber bald kämpfte ich mit mir. Entweder erstmal Willenskraft und später ein Problem oder Weichei, aber keine Probleme. Ich hatte Unannehmlichkeiten mit der linken Achillessehne, sie war beim Anstieg heißgelaufen und scheuerte schmerzhaft in der Sehnenscheide. Typisch, wenn man sonst nicht viel läuft, die Sehne regierte wahrscheinlich auf die Dehnung beim Aufstieg.
Auch ansonsten war ich nicht sehr trittsicher, zuviel Sonne, zuviel Wind, abwechselnd heiß und kalt, zuviel Gewurl und definitiv zu wenig Kondition. In früheren Jahren bin ich bei meinen Alleintouren dann stundenlang stoisch vor mich hingetrabt, habe mich mit mir selbst unterhalten und den nächsten Tag im Bett verbracht. (Ich erinnere ich noch gut diese Weihnachtswanderung, die ich mit einem Sonnenstich bezahlte.)
Also musste ich mich zu einer Ansage durchringen: Mimimi, Fuß ist schlimm, wir sollten besser bald umkehren und den Lift nach unten nehmen. Achteinhalb Kilometer Abstieg hätte ich definitiv nicht mehr geschafft, egal, wie lang die Runde ist, die wir oben auf dem Bergkamm drehen. Also schaukelten wir mit dem Lift wieder nach unten, diesmal lief auch der zweite Teil der Bahn.
Grmpf!
Ansonsten schwamm ich jeden Morgen brav meine Runden im Pool, meist eine halbe Stunde lang und widmete mich der Kunst des Nichtstuns – was hieß, an einem Spitzentuch mit dünnem Seidengarn zu stricken oder Blindsäume am Kielo Wrap Dress zu nähen.
Das Kleid hatte am Samstag zum Klavierkonzert im Schlosshotel seinen Auftritt. Fotos gibts allerdings nicht, das habe ich vergessen. Aber so weit: Guter Schnitt und ein guter Stoff, der auf diese Verwendung mehr als 10 Jahre gewartet hat.
An einem Tag fuhren wir ins Böhmische und tranken einen Kaffee in Trautenau auf dem Marktplatz. Eine schöne Mischung als exaltiertem Barock und Jugendstil mit derselben Attitüde. Vorher machten wir Halt in Landeshut, einer kleinen, ebenso barocken Stadt. Im Gegensatz zum properen und blühenden Trautenau ein vergessenes und verfallenes Eckchen. Es sieht aus wie in vielen ostdeutschen Kleinstädten. Wer die Energie hat wegzugehen, tut es und die anderen bleiben zurück – bis auf einen, der hier in einem kleinen Restaurant phantastisch kocht.
Auf dem Rückweg zum Auto kamen wir an einer gespenstischen Szene vorbei. Eines der kleinen Barockhäuser hatte eine Polizeiabsperrung, davor sammelten sich Teenagermütter mit Kinderwagen auf Bänken, ältere Frauen standen zwischen parkenden Autos mit verschränkten Armen in Grüppchen herum, die üblichen Säufer schwadronierten laut und dazu gab es noch zwei Fernsehberichterstatter mit Mikro und Kameramann. (Sehr interessant anzusehen, wie die Leute ihren Text vorher üben und nur obenrum ordentlich angezogen sind.) Den Grund für diesen Auflauf – zuerst vermuteten wir einen Lokalpolitiker, der wegen Steuerhinterziehung verhaftet wurde – googelten wir auf der Seite des Nachrichtenkanals, die an einem Ü-Wagen stand. Der war leider sehr tragisch und begegnet einem sonst nur in Krimis. Ein junger Mann hatte ein zehnjähriges Kind, das vor dem Haus stand und auf seine Eltern wartete, die in einem Ladengeschäft waren, einfach so mit einer Axt erschlagen.
Gruselig.
Vorgestern nun gab es die exorzistische Reise. Ich hatte das irgendwann schon einmal erwähnt, dass Urlaub in Polen für mich kategorisch nie wieder in Frage kam, nachdem meine Eltern mich 1976 dorthin in ein Ferienlager geschickt hatten.
Also noch mal im Klartext. Ein soziophobe, moppelige in die Welt von viktorianischen Romanen und medizinischen Fachbüchern abgetauchte Pubertistin von 13 Jahren wurde mit 15 Altersgenossinnen (und ebensoviel Jungs, aber gleichaltrige, reale Jungs waren ja uninteressant) für drei Wochen gegen ihren erklärten Willen ins benachbarte Ausland geschickt. So mit „Kind, wir schicken dich in die Berge, du musst auch mal raus, dich bewegen, mit anderen Leuten zusammen sein!“ Ganz eigentlich sollte es wohl ein „Wanderlager“ sein. Eine Tourengruppe, die durch Polen wandert und jeden Tag woanders ist. Aber da überlegten die Eltern wohl zu lange, ob ich den anderen nicht zu langsam wäre und es gab keine freien Plätze mehr.
Mein Koffer wurde gepackt und ich in den Bus gesetzt. Mit uns fuhren 30 polnische Mädchen und Jungs, die auf der anderen Seite des Flusses vom Oderkaff wohnten, in einem ehemaligen Stadtviertel, nun zur Stadt erklärt und etwas einsam im strukturschwachen Gebiet. Ihre Eltern arbeiteten im größten Großbetrieb im Oderkaff.
Man fuhr uns ins Isergebirge nach Bad Flinsberg in ein Ferienlager, das einem polnischen Partnerbetrieb gehörte. Während eines Zwischenstopps in Hirschberg, wo wir in polnische Busse umstiegen, wurden Höflichkeiten zwischen den Erwachsenen ausgetauscht und eine elegante ältere Polin sagte laut in sehr gutem Deutsch: „Polen ist so schön, bleibt doch einfach alle hier!“ Wir Kids schauten uns mit panisch aufgerissenen Augen an. Bloß nicht!
Wir fanden es zwar cool, im kleinen Grenzverkehr nach Polen zu gehen, denn im Gegensatz zur DDR und ihren satten Handwerkern und den enteigneten Kleinbetrieben gab es dort eine Privatwirtschaft, die noch die 1000 kleinen Dinge herstellte und vertrieb. Nippes, handgefertigter Schmuck, Holzschuhe, Westkaugummis, Schallplatten aus Lizenzproduktion etc. Aber die Häuser waren noch kaputter und heruntergekommener als im Oderkaff, wo man wenigstens jede Menge neue baute und die alten verfallen ließ. Die Herden von professionellen Hamsterkäufern, die halbe Kaufhäuser leermachten, weil es scheinbar in Polen weder Zucker noch Watte (zum Schnapsbrennen und -filtern), noch preiswerte Kinder-und Babyausstattung gab, waren im Oderkaff berüchtigt.
Wir wurden mit dem Bus in den Zielort hinein und wieder heraus auf eine Bergwiese gefahren und dort gab es den ersten Fahnenappell und eine Begrüßung vor einem Gebäude mit anliegendem Saal.
Es war hundekalt und regnerisch. Das würde sich die nächsten Wochen nicht ändern. Wir hatten zwar eine Liste erhalten, was wir unbedingt mitbringen sollten (ein Freundschaftsgeschenk, Pionierkleidung, Sportsachen), aber die Angabe, dass das Ferienlager auf 640 Meter Höhe auf einem Bergsattel lag, über den der Wind pfiff, fehlte. Einige hatten noch nicht einmal einen warmen Pullover im Gepäck, weil die Eltern geglaubt hatten, es ginge um die üblichen Sommerferien. Die Temperaturen waren tagsüber seltenst über 20 Grad, nachts wurde es sehr kalt.
Die Deutschen wurden in einem anderen Quartier untergebracht, 600 m entfernt, 80 Höhenmeter niedriger und nur zu erreichen nur über einen steilen, schlammigen Trampelpfad bergab, über den wir bald unser Gepäck zerrten.
Man wies uns in einer verfallenen, schmutzigen Villa ein Zimmer mit Nebengelass und Veranda zu, etwas über 30 qm für 15 Personen, mit schmalen eisernen Militärbetten, auf denen Strohsäcke und Decken lagen, dicht an dicht gefüllt. Keine Tische, keine Schränke, keine Stühle. Dafür fingerdicke Ritzen im Holz der Veranda und schlecht schließende Fenster, durch die es zog und hereinregnete. Auch das Dach war nicht dicht, es tropfte bei starkem Regen auf ein Bett.
Ich reagiere ja schon ein Leben lang auf Zumutungen mit stummem Entsetzen, so auch hier. Die anderen Mädchen setzten sich hin und heulten. Sie wollten sofort wieder nach Hause.
Kurze Krisensitzung unter den Betreuern (die im Nachhinein betrachtet ebenso wenig amüsiert schienen, es sich aber nicht anmerken ließen), dann kam der deutsche Lagerleiter, Typ 1,60m-Zackzack-Reserveunteroffizier und erklärte uns, wir sollten uns nicht so haben. Das sei in Polen so, man habe hier sehr unter dem Krieg gelitten und wir sollten den Mund halten und uns anpassen. Schließlich ginge es um Völkerverständigung.
Der Kulturschock ging beim Essen weiter. Es gab genug Brot, das war alles. Butter und Wurst nur in homöopatischen Dosen, jede Menge grüne Gurke, die Marmelade stand auch abends auf dem Tisch, war mit Wasser verdünnt und dazu gab es immer und überall Twarog, in Blöcke gepreßten Quark (in der Konsistenz ähnlich wie zu trockener Ricotta), von dem Scheiben geschnitten wurden. Das Mittagessen bestand aus Suppe und am Wochenende aus Kartoffeln, gekochtem Dosenfleisch und Kraut. Dazu gab es süßen bunten Fruchtsaft, den wir gierig tranken. Wir wurden nach ein paar Tagen darauf hingewiesen, dass wir bitte nicht mehrmals Kompott nachverlangen sollten und lernten, dass der Fruchtsaft Kompott war – ausgekochtes, gezuckertes Trockenobst. Irgendwann, als wir nach mehr Butter und Wurst fragten und das abschlägig beschieden wurde, wurde gesagt, es gäbe große Nahrungsengpässe, das sei das Äußerste, was man aufbieten konnte. (Dass wir wiederum das Sonntagsessen, gebackene Grützblutwurst, überwiegend nicht wollten, begriff niemand.) Wir waren verwöhnte Wohlstandskinder.
Unter Diätstandpunkt war das sicher eine sehr gute Nahrungszusammenstellung. Aber wir im Wachstum begriffene, frierende Teenager, die noch nie im Leben hungern mussten, litten einfach nur. Es gab ja nicht mal Schokolade oder Kekse, die wir statt dessen bei unseren Ausflügen in die Stadt kaufen konnten. Nebeneffekt: Ich nahm in den knapp 3 Wochen 5 Kilo ab.
Nach einer Woche hatte ich wie viele eine Mordserkältung und fragte mich, was das alles sollte. Die engen, feuchten Zimmer in der Villa waren für den Aufenthalt nicht geeignet, der Speisesaal komplett überfüllt und draußen vor dem Haupthaus rumhängen brachte es auch nur zeitweise, wenn es mal nicht regnete. Wir langweilten uns auf Pubertistenart furchtbar, weigerten uns aber, auf Bergwanderungen zu gehen – auch weil viele nicht die geeigneten Schuhe dafür hatten.
Das mit der Völkerverständigung war auch eher so ein frommer Wunsch. Die Polen wollten mit uns nicht Russisch sprechen, wir wiederum sprachen nur sehr wenig hastig angelerntes Polnisch. Es gab einfach kein wirkliches Interesse aneinander.
Während wir litten, hatten sie Spaß. Rannten herum, sahen fern, spielten Spiele, lasen Bücher oder sammelten Blaubeeren. Ein Betreuer erklärte uns dann, dass polnische Familien oft sehr beengt mit mehreren Generationen unter einem Dach lebten. Der durchschnittliche Lebensstil in der DDR – die vierköpfige Familie in einer Drei- oder Vier-Zimmerwohnung von 50 oder 55 qm war für sie Luxus, ebenso Neubau mit Fernheizung und Warmwasser aus der Wand, das gab es nur in industrialisieren Ballungsgebieten. Die meisten Familien wohnten in einer Zweizimmerwohnung und hatten noch die Großeltern dabei. Dementsprechend waren sie froh, der Enge entronnen zu sein.
Nach 10 Tagen bekamen unsere Klagen, in dem entfernten Haus schlafen zu müssen, doch einen handfesten Unterton. Das Bad der kleinen Villa war die umgebaute, mit den üblichen Terrazzo-Waschrinnen, die es auf jedem Campingplatz gibt, versehene Waschküche im Souterrain, in die man auch zwei zusammengezimmerte Kloverschläge gesetzt hatte. Der Fußboden schwamm vor schlammigem Dreck, den wir von draußen hinein trugen und keine der Türen war abschließbar. Aber das war egal, wir hatten sowieso mehrmals am Tag nasse, schlammige Socken und Schuhe.
Die Jungs machten sich einen Spaß daraus, ins Bad oder ins Klo hineinzuplatzen, um irgendwann mal eins der Mädchen vielleicht nackt zu sehen. Selbst wenn jemand Wache stand, nutzte es nichts. Die polnischen Mädels hätten den Typen wahrscheinlich längst aufs Maul angeboten, mit der Sprachbarriere mussten wir die Betreuer einbeziehen. Jungfrau in Not ist überall auf der Welt ein Argument.
Wir siedelten ins Haupthaus um, wo auch der deutsche Lagerleiter mit seiner Familie wohnte, damit wir besser unter Aufsicht waren. Das brachte zumindest einige Erleichterungen wie ein Zimmer, in dem man sich aufhalten konnte, sogar einige Stühle und es war nicht mehr so kalt, weil die Fenster besser schlossen. Am einzigen Sonnentag des Aufenthaltes fand übrigens das Sportfest statt.
Wir zählten die verbleibenden Tage und warteten auf die Rückfahrt, für die wir lange ins Tal laufen mussten, weil die Busse aus irgendeinem Grund nicht bis auf den Berg kamen. Ich war schon seit Tagen vor lauter Heimweh völlig durch und kotzte wie ein Reiher. Auch kein Vergnügen bei einer längeren Busfahrt.
Die Eltern waren entsprechend entsetzt bei meiner Rückkehr und das Wanderlager – berichteten sie mir – war vorfristig abgebrochen worden, als die Gruppe so gut wie gar nichts zu essen bekam, neben einem Schweinestall nächtigen musste und dort Ärger mit über die Betten flitzenden Ratten bekam. Ich bekam ein paar Gespräche mit, das Kopfschütteln, das „Was machen die da bloß mit dem, was sie bekommen haben?“
Bald darauf wurde die Grenze zu Polen geschlossen und die Werftarbeiter in Danzig streikten. Wir bekamen als Kinder nur den ersten Beginn mit.
Das war die Erinnerung. Immer wenn die Rede auf Polen kam, dachte ich an Kälte, Schlamm, Hunger, faulendes Holz, abblätternde Farbe und quietschende Knastbetten.
Der Graf hat mir Polen von einer anderen Seite gezeigt, auch wenn Schlesien in vielen Ecken immer noch so aussieht, wie die alten Bergpensionen 1976. Ich weigerte mich allerdings beharrlich, nach Bad Flinsberg zu fahren, ich wollte da nie wieder hin. Aber der Graf meinte, ich sollte es mir anschauen.
Da ich vor diesen vielen Jahren den typischen Teenager-Tunnelblick hatte – man interessiert sich kaum für Landschaften und Wege, sondern trabt mit einer Gruppe mit, brauchte ich einige Zeit, um auf der Karte zu recherchieren, wo das Haupthaus und das kleine Nebenhaus gewesen sein könnten. Ich erinnerte mich an die Lage außerhalb von Bad Flinsberg, an den Bergsattel und dass es auf der anderen Seite in einen anderen Ort ging. Es kam nur ein Ort in Frage, ein dreieckiges Stück planiertes Brachland.
Als wir aus dem Hotel ausgecheckt hatten, fuhren wir gleich in Richtung Isergebirge. Wir verzichteten auf einen Aufenthalt im Wald zwischen Agentendorf und Kiesewald, wo ich gern in einem kleinen Bergflüßchen Flachköpperdämme und Staustufen baue, während der Graf die Beine ins Wasser hält und mir zusieht. Es war zu kalt, es fühlte sich an wie der erste Herbsttag.
Wir fuhren durch Bad Flinsberg, das sich wieder in einen properen Kurort verwandelt hat und nahmen den Weg über den Berg, wo ein Wintersport- und Mountainbike-Zentrum entstanden war. Das dreieckige Brachland war ein Parkplatz, die großen Bäume standen noch davor, die Stromversorgung aus dem Tal war am Rande des Platzes gekappt. Die Bergwiese, auf der Fahnenappelle und das verhaßte Sportfest stattfanden, war von Büschen verwuchert, wie auch der Weg hangabwärts zu der kleinen Villa.
Ich spuckte auf den Platz. Es war wie an anderen Orten meiner Kindheit. Ich entdeckte erst nach langer Zeit – und dem Fall der Mauer – dass es sich um wunderschöne Landschaften handelte. In den Zeiten vorher dominierten Ungemach von Anreise und Aufenthalt, fehlende Bequemlichkeit und Privatsphäre, direkter Anschluss an alle Wetterunbill und liebloser Großküchenfraß. Ja, es war hier wunderschön. Der Wind pfiff zwar immer noch über den Sattel, aber die Blicke in beide Richtungen waren beeindruckend, sonnenübergossene dunkelgrüne Berge und flache Landschaften mit Stoppelfeldern. Am Rand des Platzes wuchsen süße, riesige Brombeeren. Ich pflückte eine große Hand voll, ich hatte sie mir verdient.
Dann fuhren wir ins Tal Richtung Bad Schwarzbach hinunter und fanden die Villa, stiegen aber nicht aus, weil Leute davor arbeiteten.
Auf der Rückfahrt nach Berlin überlegten wir, wie wir recherchieren konnten, ob ich mich nicht geirrt hatte. Da in den Jahren nach dem Krieg in diesen Bergorten seltenst neu gebaut wurde und wenn, dann Stahlbeton-Fremdkörper im Moderne-Stil, musste es sich um einen deutschen Berggasthof handeln.* Das Netz ist voll von schlesischen Erinnerungssammlungen, das Haus müßte zu finden sein.
*Es ist so. Zeit vergeht schnell. Schlesien war für die Großeltern selbstverständlich ein verlorener Teil von Deutschland, für die Eltern eine Erinnerung daran und für uns Kinder war es Polen, nichts anderes.
Berlin empfing uns mit einer warmen Sommernacht und einer kleinen Jazzband vor der Weinerei. Die Stadt summte. Der Graf setzte sich auf einen Tisch, den er ans offene Fenster geschoben hatte, hielt die Füße in die Nachtluft und begann zu recherchieren. Und dann hatten wir das Haus gefunden.
Quelle
Tatsächlich ein alter Berggasthof, dem die Außenanlagen allmählich abhanden gekommen waren.
Quelle
Der Berghang ist nun völlig zugewuchert, nur manche Wiesen werden noch gemäht, hier hält schon seit 70 Jahren niemand mehr Vieh und die Bauernhäuser verfallen. Die Villa ist in neuen Händen und viel Arbeit liegt vor den Besitzern:
Ich habe einen Haken an diese Wochen gemacht. Die Brandhöhbaude, einst Berggasthof, dann Privatwohnung und Ferienheim des elektronischen Betriebes Tewa, war in den 90er Jahren Heim für ledige Mütter und wurde danach abgerissen (…aber niemand weiß, warum, heißt es in einem Kommentar).
Wer bis hierhin durchgehalten hat, bekommt noch eine Empfehlung – hier ist eine ältere, sehr gute Geschichte über Wanderungs- und Fluchtbewegungen im letzten Jahrhundert.
Das, was gerade passiert, ist nicht neu. Es ist anders und deshalb fühlt es sich neu und für manche bedrohlich an. In Zeiten, wo wir mal eben nach London auf eine Party fliegen und keine Visa mehr dafür beantragen oder ein Vermögen für die Reise ausgeben müssen, machen sich auch Kriegsflüchtlinge und Völker in Not und ihre Vorhut, die jungen, kräftigen Männer, auf größere Wege.
Es ist auch nicht neu, dass sich Menschen von Fremden bedroht fühlen und um sich schlagen. Es gehört zur Natur der menschlichen Gesellschaft, genau wie Barmherzigkeit und Gastfreundschaft. Es ist das Ying, das das Yang bedingt. Licht und Schatten. Es ist einfältig, zu hoffen, dass Veränderung immer nur gute Seiten hat (für wen, ist immer die Frage). Es wird einfach anders und global gesehen sind die Befindlichkeiten unserer Tage stecknadelkopfgroß. Wenn die Zeit reif ist, können aktivistische Menschen viel bewegen. Manchmal glauben sie sogar, sie waren die Ursache, nicht nur der Anlass.
DAMIT ETWAS KOMMT MUSS ETWAS GEHEN DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG IST DIE FURCHT DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN**
Das Schlimmste ist wohl, wenn Menschen sich glauben machen lassen, sie dürften nicht dagegen anschreien und wenn sie nur fein still hielten und täten, was von ihnen verlangt würde (von Leuten, die schon wüssten, was gut für alle sei), käme irgendwann das Paradies/der Kommunismus/die gerechte, bessere Gesellschaft.
Zivilen Ungehorsam gibt es nicht nur von links und nicht nur aus dieser Richtung ist er legitim. Das ist bitter und schwer aushaltbar. Auch für mich. Wenn ich das Foto der Mutti mit der Reichskriegsflagge in Heidenau auf dem Parkplatz sehe, dann höre ich tief in mir meinen Großvater im Grab rotieren.
Die Symbolik des zivilen Ungehorsams kann mit etwas Recherche hergeleitet werden. Auf allen Seiten paramilitärisch, hier mit Punk-Attitüde, da mit Nazi-Anleihen. Es geht sehr wahrscheinlich weniger um den tatsächlichen Inhalt als um den Stich in die richtige Richtung. Hier die Provokation alles Festgelegten, Geordneten, Sauberen, Begrenzten und Sortierten, da die Provokation des Offenen, Freien, Veränderungswilligen, Flexiblen.
Mit ihrer Angst um ihr kleines Geschaffenes, aus der in Erzählungen große Dämonen wachsen, ähneln sie sehr denen, gegen die sie kämpfen. Wie der zu kurz gekommene Bruder, der gegen das bevorzugte Kind wütet.
Wie das Neue aussehen wird? Wir wissen es nicht. Wir gehen ihm nur durch den Strom der Zeit entgegen.
Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru. Trockener Schlamm mit Fahrspuren. (…) Vor einer Plakatwand mit Reklamen für Produkte einer fremden Zivilisation stehen zwei riesige Einwohner.***
**Anmerkung zu „Mauser“ in Heiner Müller Revolutionsstücke, Reclam, Stuttgart 1988
*** „Der Mann im Fahrstuhl“ in Heiner Müller Werke 2, Die Prosa, Suhrkamp 1999
Toll geschrieben. Also alles, auch die Zeit-/Inhaltssprünge bzw Überleitungen.
Jetzt bin ich neugierig aufs Riesengebirge. Quartierempfehlung?
Wir sind ja eher spießig unterwegs und klappern seit Jahren polnische Schlosshotels ab. Der Graf hatte mal eine kleine Mobil-App mit Adressen zusammengestellt: http://schlesisches-elysium.lima-city.de/index.php
In der Regel sind wir in Wernersdorf, weil wir auf alt getrimmes Disneyland nicht mögen.
Dort ist es modern und mit etwas Glück in der Nebensaison auch sehr entspannend.
Sehr gut beschrieben, dieser Kampf der da am unteren Ende der Gesellschaft ausgetragen wird.
Ich lese immer sehr gern, wenn Sie von Ihren Reisen nach Polen berichten und möchte dann am liebsten gleich bei Ihren Chefs bezahlten Sonderurlaub für Sie beantragen, damit Sie bald wieder hinfahren.