Wir saßen im Konzert ganz hinten auf Notstühlen und konnten von Glück reden, daß wir überhaupt noch reingekommen waren, unsere Karten waren längst verkauft. Wir waren umgeben von den üblichen Kulturtouristen und sehr vielen Ungarn, Gemeindemitgliedern, kulturell Interessierten. Neben mir saß ein uraltes Paar in Begleitung eines jungen Mannes, der aussah wie ein italienisches Renaissanceporträt. Er drückte gedankenversunken immer wieder auf die Knöpfe seines Handys, als würde er sich mit den Perlen eines Rosenkranzes beschäftigen. Auf seinem Display leuchtete ein Madonnenbild. Als die Musik begann, dirigierte er verhalten mit, mit bebenden Händen und sang sehr leise dazu.
Das muß der Vivaldi-Effekt sein. Ich erinnere mich an eine Fahrt durch die Nacht um den Luganer See, während meine Freundin auf dem Beifahrersitz die Vier Jahreszeiten dirigierte.
Es war wirklich ein interessantes Publikum. Sie hörten sehr still zu, auch die vielen Kinder waren nicht zu hören. Der Beifall danach war sachlich, freundlich, fast verhalten, obwohl das Konzert hervorragend war. Keine standing ovations, keine aufgesetzte Emphase und hatte man das Gefühl, daß die Anwesenden die Musikstücke (Vivaldi, Bach , J. H. Schein) sehr gut kannten.
Wie weit war das weg von unserem Hey, ich bin der kluge Superchecker, denn ich halte ein Klassikkonzert aus! Am liebsten mag ich Anna Netrebko, denn die sieht toll aus und Lang Lang ist ein toller Klavierspieler, denn die Karten sind immer ausverkauft…
Danach hatte ich einfach nur noch brüllenden Hunger. Wir konsultierten den Reiseführer und fanden das Ocean. Frischer Fisch und ein cooler Laden, das brachte unsere Ansprüche weitestgehend auf einen Punkt: der englische Freund hatte seinen Luxus und ich mein glutenfreies Essen. Es war etwas leer, die Hübsche am Eingang fragte trotzdem, ob wir reserviert hätten. (Naja, wenn ihr das so beigebracht worden ist.) Die Weinempfehlung war hervorragend, ein im Barrique ausgebauter Weisswein (was ich ansonsten nicht so sehr mag). Überhaupt sind die ungarischen Weine eine Wucht und vor allem ist in der Qualität immer noch Platz nach oben. Der Anbau ist ja erst seit 10 Jahren von der Massenerzeugung weggegangen zu individuellen Produkten.
Das Essen war eine Katastrophe. Da die Stadt sich erst langsam wieder füllte, denn die Schulferien endeten gerade erst, war scheinbar auch der Chef nicht da und in der Küche werkelte abends ein Adlatus allein. Daher konnten wir problemlos die Herstellungsreihenfolge der Gerichte am Trockenheitsgrad rekonstruieren. Mein Kabeljau mit Senfkruste war hart und trocken. HeMans Lachstrilogie hatte die ganze Palette: angetrocknete Krusten, faserig-trocken, einfach nur trocken. Einzig der Grillfisch des englischen Freunds war auf den Punkt gegart und sehr lecker. Das darf einfach nicht passieren, auch wenn die Preise, gemessen an deutschen Verhältnissen, moderat sind. So ein Restaurant verkündet überall sein Konzept und das muß es dann auch erfüllen. Der Service dagegen war hervorragend. Charmante junge Leute, die sehr kompetent waren und gutes Englisch sprachen.
Am nächsten Morgen beschlossen wir, diese Herumirrerei aufzugeben. Wir fuhren mit dem Taxi zum Kunstpalast und zum Nationaltheater, die etwas entlegen waren, weil der Reiseführer ziemlich kontroverse Architektur versprach. Der Kunstpalast war das schönste moderne Gebäude, das ich dort gesehen habe. Innen mit fast skandinvisch mit hellen Nussbaumverkleidungen und viel Glas, Räume, die manchmal Scharouns Staatsbibliothek zitieren. Und das schönste war, das das Haus nicht leer und tot war, sondern voller Kinder, die malten und sangen, es gab irgendeine Ritterveranstaltung. Das erinnerte mich sehr an den Palast der Republik in Berlin (R.I.P.), der auch ein Ort war, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, wenn er sich der Kultiviertheit der Räume entsprechend benahm. Repräsentative Räume betritt man in Deutschland fast nur noch in Zusammenhang mit Konsum oder Marketing (es sei denn man bekommt das Bundesverdienstkreuz), das ist alles kommerzialisiert.
Das Schauspielhaus ist eine so große architektonische Katastrophe, daß man es eigenlich nur als Ironie begreifen kann (ein in einem künstlichen See versunkener Tempel, garniert mit brennenden Fackeln, der sich 10 Schritte weiter in einen Schiffsbug verwandelt. Aber ich glaube das Ding wird mal berühmt.
Unser Taxifahrer war sehr nett und hatte einen gemütlichen neuen Wagen (ungarische Taxis gleichen in der Qualität denen aus Berlin, man wundert sich, welche Mühlen überhaupt noch fahren), das brachte uns auf die dekadente Idee, die Gruppendynamik auszutricksen und der Kälte zu entfliehen, indem wir 2 1/2 Stunden Stadtrundfahrt mit ihm machten.
Für mich ist es immer noch nicht begreiflich, daß ich in einem Land, in dem ich früher jeden Pfennig umdrehen mußte, so etwas tun kann. Ich habs allerdings nicht bezahlt…
Wir fuhren duch die Nebenstraßen der Innenstadt. Da gab es sehr viel Armut zu sehen. Die Berufsbettler waren alle in den Touristenzentren, hier gab es elende Gestalten. Barfüßige Penner, heruntergekommene Behinderte, Geistesgestörte und jede Menge schlafende Obdachlose. Dazu bitter arme alte Menschen mit abgetragenen Sachen, in einem Gesundheitszustand, in dem man in Deutschland längst zum Pflegefall erklärt und umsorgt würde…
Uns geht es sehr gut. Und beim Anblick von Prag und Budapest weiß ich, daß die Investitionen, die in den Osten geflossen sind, vielleicht einen Grad von Demütigung mit sich brachten, der einem solchen Geschenk immanent ist. Aber wir sind noch mal davongekommen. Jeglicher andere Weg hätte uns diese brutale Armut sozial schwacher Schichten gebracht, gegen die Hartz Iv Vollpension ist.
Wir machten auf unserer Tour Halt am Parlament (nett, aber noch in der Sommerpause und bei dem Wetter laaangweilig), am Kunstgewerbemuseum (amazing, wie der englische Freund erklärte, es gab nur wenige Exponate zu sehen, weil das Museum grade umgebaut wird, aber schon die waren wunderschön, so wie das ganze Gebäude), an der Synagoge (Klezmer-Musik-Overkill im Eingangbereich, aber ein wunderschönes Gotteshaus). Dann fuhren wir zum Kerepesi-Friedhof. Das war der Hammer. Abgesehen davon, daß wir ganz dekadent mit dem Taxi auf dem Friefhof herumfuhren, konnte man das sehr eigene Verhältnis der Ungarn zum Tod sehen, das dem der Österreicher in nichts nachsteht. (Die höchste Selbstmordrate in der EU nach Österreich.) Es gab nicht nur historische Gräber mit wunderbaren weinenden Engeln, es gab auch moderne Gräber mit Glasskulpturen und ziemlich verrückter Gestaltung. Vor einem der Gräber – in eine Glasstele war das Bild eine jungen Mannes eingeätzt – saß ein weinendes Elternpaar auf einer Bank.
… Fortsetzung folgt
hach… schön; unverändert spannendes
Lesevergnügen (o;
rumänien? nun, nach budapest wäre es interessant da mal hinzufahren. danke für diesen schönen reisebericht. und denkt dran, alles was ihr an euronen dort ausgibt ist gut! unbedingt wein mitbringen. die malev gehört übrigens abramowitsch:-) der budapester flughafen wird euch auf dem rückflug noch erstaunen sag‘ ich nur! klein, eng, alles zusammengedrängt, delays ohne ende, es werden leute ausgerufen aus ländern die man nie gehört hat… viel spass noch. grüss mir die buda, von der habe ich immer ausschlag bekommen (wegen der hohen luftverschmutzung).
Ihr Reisebericht ist eine Klasse für sich !
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freut mich!
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ah, sie scheinen ja einiges an lokalkenntnissen zu haben.
ja, rumänien empfand ich als ganz schreckliches land, sogar noch bevor ceausescu völlig durchdrehte.