Ohne Präambel geht es nicht mehr: Mir ist kein Jahresrückblick so schwer gefallen wie dieser, es ist nichts passiert, es ist gerade alles Routine und doch ist alles passiert.
2022 sollte sicher nicht nur für mich das Jahr des Neuanfangs nach zwei Jahren Pandemie-Stillstand werden. Nun ja.
Es war das Jahr der von der Seite heranschleudernden Dinge, die einen schwer treffen und mitnehmen wollten. Das Jahr der unausdenkbaren Realitäten, dazu kamen noch Zuspätkommer und penetrante Wiedergänger.
Und dazwischen hakte, stockte und hing es, ein Jahr mit Mehltau. Puh. Geh mir bloß weg.
Das Jahr begann mit einem Orkan und einem Dachschaden. Es gibt Versicherungen, aber Handwerker mit genügend Zeit sind ein anderes Kapitel.
Es ging weiter mit dem Wiedergänger, einem verstopften Abflußrohr, das in weitem Bogen ums Haus geht und die Fallrohre aufnimmt. Immer wenn wir glaubten, es war frei, war es wieder zu. Dazu kam noch penetranter Gestank, bei Luftdruckwechsel und einer bestimmten Windrichtung. Vorteil dieser Belästigung: Wir hatten noch nie so prächtige Rosen, weil sie um einen Revisionsschhacht standen, der ab und zu überlief.
Der Zuspätkommer hieß Corona und vermieste uns den Spätsommer und die Woche, die wir mit dem Enkelkind verbringen wollten. Das arme Mäuschen war zum ersten Mal so lange weg von zu Hause und dann auch noch krank. Aber das Kind kam dazu …und war sofort auch krank. Der Graf hielt sich auf Abstand und war weniger krank und ich versorgte die kranken Hühnchen, maskenlos rummutternd, weil ich dachte, ich habe es sowieso, vergaß aber, daß die Viruslast damit größer wird. Als die beiden wieder zu Hause waren, warf es mich richtig um. Davon habe ich mich auch noch nicht wieder gänzlich erholt. Ich habe es garnicht richtig mitbekommen, der Graf wies mich darauf hin, daß ich mehr schlafe und nicht mehr so ausdauernd und energisch bin wie in den Jahren vorher. Ich schaffe weniger Tagespensum.
Dann hatte ich hier einen längeren Text über den Krieg geschrieben. Den hat aber irgendein nicht stattgefunder Speichervorgang gefressen. Dann soll das so sein. Deshalb eine Kurzfassung.
Meine Erkenntnis des Jahres: Das „Ende der Geschichte“, das ich in den 90ern miterlebte, war nur eine Interrimsphase. Der langjährige Lebensgefährte lebt mit Frau und Kind in Kiew, da höre ich, daß sich keiner erobern lassen will. Um jeden Preis. Ich wünsche ihnen Glück.
Ich habe vieles unter „zu Ertragendes“ einsortiert: daß wir ein paar hundert Kilometer entfernt (in einem Land, durch das uns Vater in den 80ern vier Mal mit dem Auto gefahren hat) Krieg haben, die Entwicklung der Lebensmittel- und Energiepreise, die Unsicherheit, wie lange das noch gut geht. Ich stelle mich mittlerweile darauf ein, daß das nur der Anfang war. Wir hatten einige ziemlich gute Jahre, jetzt sind die miesen Jahre dran.
Hier ist man gut gerüstet, im Nirgendwo zu sein kann auch relative Autarkie bedeuten.
Zugenommen oder abgenommen?
Keine Ahnung, mal so, mal so. Könnte langsam weniger werden, weil das Material auch nicht mehr das neueste ist und die ganze Fülle tragen muß. Aber den Streß, Gewicht zu reduzieren, ohne daß ich im Kopf so weit bin, ist es mir nicht wert. Außerdem geht es nach hinten los.
Haare länger oder kürzer?
Kürzer. Halbes Schulterblatt, gestuft, damit die Wellen rauskommen. Ich habe großes Glück, der männliche Teil der Berliner Untermieter ist angehender Friseurmeister der recht hochklassigen Art und der setzte die Schere an und gab Pflegetipps.
Was auch nötig war, denn die Ereignisse des Jahres hatten mir Haarausfall beschert. Aber es wächst schon wieder nach, ich muß noch nicht auf Seidenturban umsteigen.
Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Unverändert. Ich schaffe es sogar, auf die Handyschrift ohne Brille zu fokussieren, allerdings habe ich dann fünf Minuten lang verschwommene Fernsicht, das Material…
Mehr ausgegeben oder weniger?
Gleich viel.
Der hirnrissigste Plan?
Nix, im Haus hat der Graf die Planungshoheit, der plant sicher. Wesentlich mehr findet hier gerade nicht statt.
Oder halt der Holzkauf, denn der Graf hat Wochen gebraucht, die Stämme zu zersägen und grob zu zerlegen.
Die gefährlichste Unternehmung?
Keine bewußt geplante. Sondern der ganz normale Rückweg von Berlin in den Norden in einer stockdunklen Novembernacht und dann lag plötzlich ein riesiges Truck-Rad mit Felge mitten auf der Fahrbahn. Der Graf fuhr knapp unter 100, wären wir schneller gewesen, wäre das nicht so glimpflich abgegangen.
Der beste Sex?
Ich bin verheiratet. Das garantiert gleich bleibende Qualität.
Die teuerste Anschaffung?
Ein Hof voll Holz und der Graf mußte leider ein neues Auto kaufen und das alte wahrscheinlich abschreiben oder teuer reparieren lassen.
Das leckerste Essen?
Da die Herren Spontiv dieses Jahr nicht da waren, war es etwas selbst geschmurgeltes. Ich glaube, Kaßler mit Apfel-Zwiebel-Sauce, Kartoffelpüree und Sauerkraut könnte den Rang verdienen.
Das beeindruckenste Buch?
Ich lasse mir längere Bücher mittlerweile vorlesen, dann kann ich nebenher stricken und die Zeit vergeht nicht ungenutzt.
Im Moment ist die Maigret-Reihe dran und mir offenbaren sich unerwartete Erkenntnisse. Ich habe die Figur nie für so empathisch gehalten, außerdem sind die Bücher ein schönes Sittenbild von Frankreich in den 30ern bis in die 60er.
Der ergreifendste Film?
Echt nichts neues dabei. Mit Serien kann man mich nicht reizen und Filme scheinen für mich durchgespielt.
Die beste Musik?
Das.
Das schönste Konzert?
Auf dem Abschiedsfest für den Nachbarn wurde viel Musik gemacht. Das war schön.
Die meiste Zeit verbracht mit…?
Dem Grafen, den Katzen und der wunderbaren Gegend hier.
Und mit in diesem Jahr enervierenden inneren Bleigewichten und Blockaden. Dieses Jahr war nicht im Fluß und das wird sich wieder ändern. Auch schwierige Zeiten können fließen.
Nicht umsonst ist mein Leitspruch: Nimm es wie es kommt und mach was draus.
Die schönste Zeit verbracht mit…?
Dem Grafen, der Landschaft hier und den Katzen. Nicht zu vergessen Freunde, auch wenn wir uns selten sahen, sie sind in mir.
Vorherrschendes Gefühl 2022?
Ich hätte nicht gedacht, daß das noch einmal passieren kann. Ich habe das so ähnlich schon mal geschrieben, vor über 10 Jahren, damals meinte ich das aber im positiven Sinne. Diesmal nicht.
2022 zum ersten Mal getan?
Archaische Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ich habe, von Generationen unbewußt vererbt, ein ganzes Prepperprogramm in mir.
2022 nach langer Zeit wieder getan?
Ein Leben komplett in Kisten verpackt. Diesmal war es das Stadtleben.
3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Der Krieg, der alle meine Werte und Zukunftserwartungen erschütterte.
Den Unfall.
Die Corona-Infektion im Sommer, die einen Hashimoto-Schub und heftigen Haarausfall brachte.
Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Ich kann selbstverständlich längere Strecken mit dem Auto fahren, du müßtest mich nur mal wieder ans Steuer lassen.
Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Ich weiß es nicht.
Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Die Zeit hier.
Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
Diese Gegend macht wortkarg, da zählen Gesten, Taten und Unausgesprochenes mehr.
Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
Dito.
2022 war mit 1 Wort…?
Nächste Staffel eines überflüssigen Katastrophenfilms.
Ich wünsche euch ein schönes neues Jahr! Die üblichen Wünschen, in diesen Zeiten ernster gemeint als vielleicht sonst.
Vielen lieben Dank! Das wünschen wir euch auch!