Eigentlich hatte ich extra das Zweitblog von Twoday auf WordPress umgezogen, um daran weiterzuschreiben. Aber ich merkte, das passt nicht. Die Tonalität der alten Texte ist völlig anders, ich bin längst jenseits dieses großen Krieges, den ich damals erlebt habe. Ich finde nur ab und zu mal einen Blindgänger oder eine alte Narbe schmerzt.
Am Mittwoch hatte ich die Hälfte der Zeit in der Kurklinik herumgebracht. Zu Anfang bot man mir zwei Mal Verlängerung auf zehn Wochen an, aber ich lehnte ohne Nachdenken ab. Fünf Wochen ungewollt weg von zu Hause und weg vom Grafen, das ist mehr als genug. Denn eigentlich wollte ich die Zeit ambulant absolvieren.
Mit Kur und alten weißen Villen und Trinkhallen hat das dort alles nichts zu tun. Eine alte Niederlassung der Grenztruppen mitten im märkischen Wald wurde zu einer kleinen Kolonie umgebaut. Nur wer genau hinsieht und weiß, wohin er schauen muss, entdeckt noch den alten Straßenbeton, 70er-Jahre-Betonfertigteile aus der DDR in einem abgelegenen Gebäude und nach dreimal Hinsehen wird klar, dass die Ateliers für die Kunst- und Ergotherapie einmal LKW-Garagen waren.
Zunächst tat ich mich mit diesem Summerhill für Menschen, die es nicht am Rücken, sondern an der Seele haben, sehr schwer. Dort ist die größte Abteilung die für Abhängigkeitserkrankungen und das ist eine sehr eigene, sehr auffällige Klientel. Sie bevölkert in großen Pulks laut spektakelnd die Raucherinseln, kennt keine Distanzzonen, drängelt, grölt laut umher und sich an und beherrscht elementarste Regeln der Höflichkeit und des Umgangs miteinander nicht.
Ich bin immer noch nicht sicher, ob die Unterschicht zu Sucht neigt oder Sucht sozialen Abstieg mit sich bringt oder aber besser situierte Suchtkranke schnell in ein zu ihnen passendes Rehab-Biotop flüchten. Es ist da eine bunte Mischung aus proletarischen und ländlichen Säuferinnen und Säufern, sich das Hirn wegkiffenden Riesenbabies mit schwarzen Metal-Band-Shirts und hyperaktiv hibbelnden Schnellmacherfreunden mit Luden- oder Nuttenattitüde.
Die anderen, stilleren, geschmeidiger sozialisierten Menschen sieht man erst viel später. Sie können mehr mit sich anfangen, kommen auch mit Rückzug zurecht und haben weder Bock noch Ambition, in Rotten rumzuhängen.
Es gibt die Abteilung für Eltern mit behandlungsbedürftigen Kindern, die sind manchmal anstrengend, aber können nichts dafür und es ist schmerzlich, bei manchen Eltern-Kind-Konstellationen auf den ersten Blick zu sehen, dass eher die Eltern die Intervention bräuchten, sich aber selbst für super halten. Vor allem die Väter. Von denen einer seinem Sohn, als die Mutter zum Büffet gegangen war, anbot, er könne ihm gern Mund und Nase zuhalten, dann würde er sein Essen schon schlucken. In der Öffentlichkeit, völlig ungeniert, wenn auch als „War doch nur’n Witz!“ getarnt. Was der zu Hause mit dem armen, minderbemittelten Jungen macht, der seine Sätze wimmerte wie ein getretener kleiner Hund, statt zu sprechen, möchte ich um mein Seelenheil nicht wissen. (Dem Pflegedienst habe ich es trotzdem erzählt.)
Die Eßgestörten merkt man seltener. Die Eßsüchtigen sind natürlich nicht zu übersehen, zwei in einer Unterhaltung auf dem Gang stehend, verstopfen den halt einfach. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie übermäßig bedrängt werden, nun endlich abzunehmen. Es geht eher um langfristige Verhaltensänderungen. Sport, sich vom Essen nur das nehmen, was satt macht, kein Essen horten und für seelische Kompensation nutzen. Das finde ich gut.
Die Magersüchtigen sind auch hier drin wie Gespenster. Schamvoll huschen sie über den Gang, sich fast für ihre Existenz entschuldigend, dafür, dass es ihnen trotz größter Disziplin noch nicht gelungen ist, sich komplett dünne zu machen. Es sind erstaunlich viele Männer dabei.
Drei Tage lang wollte ich abreisen. Absurde Essenszeiten, Kaffee nur nach Genehmigung, keine Süßigkeiten, nicht einfach so ein Aspirin bei Kopfschmerzen und diese fürchterlich ordinären Menschen überall, ich gruselte mich nur. Dann bekam ich den einen oder anderen Wink: Das sind zwar unsere Hausregeln, aber wenn du ein selbstverantwortlicher Mensch bist, nehmen wir das nicht so genau. Die sind für Leute gemacht, die erst wieder in die Spur kommen müssen.
Nachdem klar war, dass ich am Wochenende nach Hause kann, wenn ich es will und ich das Schwimmbad abends ein paar Mal für mich allein hatte, war ich versöhnt und sagte mir, der Rest ist halt Sozialstudie.
Ich merkte sehr schnell, dass ich die Reha vor 5 oder 6 Jahren gebraucht hätte. Die meisten Leute hier sind wesentlich betroffener als ich. Bis auf die, die das (warum auch immer) alle 2 bis 4 Jahre als Urlaub Plus nehmen (auch die gibt es hier), kommen die Menschen hier nach akuten Krisen. Das kann in der psychosomatischen Abteilung alles sein. Vom typischen Berliner Beziehungsvermeider, der gar nicht mehr weiß, wie man mit anderen Menschen Kontakt bekommt und in der Midlife-Crisis von einer Depression in die nächste rutscht, über den netten ITler, dem alle 20 Jahre die Kopfchemie so durcheinander kommt, dass er Stimmen hört und Verschwörungen wittert, bis zu (vielen) Frauen, denen bei Verlust des Mannes, ob er nun geht oder stirbt, urplötzlich das Leben zerbricht und die beim Scherben zusammenlesen und neu anfangen die Kraft verlässt. Und dann so Gestalten wie ich, mit Hybris und der Chronik eines angekündigten Falls in der Biografie.
Das sind ganz unterschiedliche Menschen. Still, mit Medikamenten gedimmt, übermäßig redselig, schrullig-entrückt, manchmal auch wie eine entzündete, offene Wunde, es ist alles dabei.
Was habe ich davon? Spiegelung. Ins-Verhältnis-setzen. Mit kleinen Klicks im Kopf etwas mitbekommen, zurechtsetzen.
Hilfe, wenn die auch nach Wiederankunft im sozialen Netz nicht sehr groß sein kann, für Vieles habe ich keine Anwartschaften. Meine Geschichte mit verlorener Alterssicherung und nicht zahlender Berufsunfähigkeitsversicherung, trotzdem jeder Menge Tätigkeit, aber wenig Power, kommt dort nicht so häufig vor.
Ich war ganz glücklich über die immer wieder als Bonus gespendeten letzten Sonnentage, die ich strickend auf der Liegewiese verbrachte. Ich beömmelte mich über den Mr.Cool-Typen im Gangsta-Rapper-Style (so richtig mit Tatoos, Glatze, weißen Sneakers, Sonnenbrille auch nachts, Hoodie und der Kapuze überm Kopf), der immer wieder „Däääähmen!“ nach seinem Sohn Damon über die Wiese blökte wie ein Schafbock.
Ich merkte, dass es mit Sport doch nicht so schlimm aussieht, wenn ich meine Ausreden nicht an mich selbst adressieren kann. Ich kann schon noch etwas leisten. Ich schwamm 1000 m unter 30min, eine ekstatische Sache, weil das Edelstahlbecken voller bläulicher Lichtreflexe war und ich mich wie im Weltraum fühlte, übte in der Gegenstrombahn Kraulen und beteiligte mich mit wachsendem Spaß an Wassergymnastik, weil sie nicht mit lauter, alberner Discomusik und Megafon-Anschreien durch einen Trainer verbunden war. Abends spazierte ich in der Dämmerung durch den Wald und an den See und unterhielt ich mit Fischen und Bäumen.
Bis ich am Tag der Halbzeit aufs Maul bekam. Im ersten Moment war es hinterrücks. Von Ups, der Tag ist aber sehr voll, das wird anstrengend. über Nö, das ist nur ein Chlorschnupfen. und Wäh! Tierhaare! Davon muss ich so niesen! bis Scheiße, gehts mir schlecht! in unter fünf Stunden.
Als mein Kopf etwas klarer war, habe ich dann auch die Frühwarnzeichen rekonstruiert. Ich fiel schon am Freitag vorher um acht Uhr ins Bett und schlief über 12 Stunden und bekam am Wochenende Herpes, ganz wie früher zu Urlaubsbeginn, wenn die Anstrengung nachließ.
Es war sehr anstrengend, ich habe es nicht wahrgenommen. Ich konnte mich mit den vielen Menschen, der fremden Umgebung, dem vielen Sport und den meinem Tagesablauf zuwiderlaufenden Zeiten keine Minute entspannen, exerzierte das Programm durch wie ein Aufziehhase und schlief keine Nacht über 6 Stunden.
Also hatte ich nun die Gelegenheit, die Grätsche, die ich bei Überlast mache, weil mein Körper nach dem nächst liegenden Virus oder Bakterium greift, um mich ruhig zu stellen, mal unter fachkundiger Beobachtung machen. Das glaubte mir immer keiner.
Seit Mittwoch liege ich im Bett und habe das übliche Nebenhöhlengedöns mit abwechselnd Fieber und Schüttelfrost und langsam bessert es sich. Ich bin ja dort, um zu lernen. Auch wenn ich lieber den Moment abpassen würde, wenn das Schwimmbad leer ist.
Für Ihren Mut und die Unerschrockenheit Ihrer Beobachtungen habe ich sehr viel Respekt. Diese elegante Distanziertheit zum doch nicht ganz so wichtigen Selbst ist sehr attraktiv. Anziehend.
toller text. alles gute für den aufenthalt
<3
gute besserung.