Als ich Anfang 20 war, lebte ich ein wildes und schönes Theaterleben. Ich hatte alles. Eine kleine Wohnung, die ich mir nach dem Timesharing-Prinzip mit dem Freund meines zukünftigen Mannes teilte (wenn er alle zwei Wochenenden kam, ging ich zu meinen Eltern), einen interessanten Job, in den ich mich mit Vehemenz, Naivität und Offenheit stürzte und viele Freunde und Bekannte – Vertraute, Bewunderte, Bewunderer, Kumpels und Gefährten.
Die Mutter meines zukünftigen Mannes (er studierte, wie sein bester Freund, in Leipzig und kam nur am Wochenende zu Besuch) musterte mich in klassischer Schwiegermuttermanier sehr argwöhnisch. „Sie nimmt es sich einfach!“, meinte sie über mich zu ihrer Tochter, des zukünftigen Mannes Schwester, mit einer Mischung zwischen Bewunderung und Entsetzen.
Mir war nicht bewusst, dass das so etwas Besonders war. Ich lebte. Gut, ich war nie darauf trainiert worden, nicht aufzufallen, lieber still zu schweigen oder mein Handeln nach dem zu richten, was „die Leute“ sagen könnten.
Ich rannte los, tat interessante Dinge, fiel böse auf die Nase, stand wieder auf oder hatte Erfolg und begann das Nächste; ich lernte, klinkte mich in ein großes Netz von Menschen ein, die viel vom Leben wollten und vermied natürlich die ganz großen (politischen) Kollisionen, ich war ja nicht verrückt.
Aber es schien nicht normal zu sein. Komisch, denn ich schadete niemandem. Im Gegenteil, hatte ich das Gefühl, einige Leute profitierten von mir, wir hatten ein instinktives System von Geben und Nehmen, in langen Ketten, kein kleines „Dies für Das“. Meine Klagefrequenz war niedrig. Das Einzige, was ich ab und zu beklagte, war mein Unvermögen, problemlos mit fremden Menschen zu agieren.
Die zitierte Schwiegermutter klagte ständig. Über zu viel Arbeit, zu geringen Verdienst, dumme Kollegen und Chefs, die politische Lage, ihren Mann, die Wohnung, die Gesundheit, die undankbaren Kinder, das Wetter… Am Ende der Klage kam ein Seufzen und der Satz: Man könne ja nichts tun! Meist hörte ich nicht mehr bis dahin zu.
In einem Teil meiner Familie war es ähnlich. Es gehörte zum guten Ton, zu warten, bis man selbstverständliche Dinge bekam, man nahm sie sich nicht. Man artikulierte oft nicht einmal, was man wollte, das war unbescheiden und bäh.
Bei Geschenken begann ein grausames Theater. Man zierte sich, wollte das Geschenk nicht annehmen, gab es zurück, mit der Bemerkung, man sei das nicht wert, nahm es dann doch, verbunden mit der Bemerkung, es es viel zu teuer und man bräuchte es doch gar nicht, in diesem bescheidenen Leben, das man führe… (Aber wehe man bekam nicht das, was man mit bedeutungsvollem Schweigen erwartete!) Es gehörte auch dazu, dass man Geschenke nicht benutzte, sondern schonte. Schokolade verdarb, Cognac verflog, in Mohairschals nisteten Motten. – War es doch alles viel zu gut.
Ich sah mir das als Kind, in meiner üblichen Haltung – schweigend, mit großen Augen daneben stehend – an. Die Großmutter, die mich erzog, hasste diesen bigotten Bescheidenheitsterror, hinter dem meist ein geharnischter Anspruch steckte, was gut und richtig zu sein hatte. Eine Zeitlang, wieder in dem Teil der Familie lebend, der dies zelebrierte, übte ich das auch, weil die andere Haltung – etwas zu nehmen und mich ehrlich zu freuen, dass ich diese Aufmerksamkeit wert war – mir als negativ und unhöflich angerechnet wurde. Aber ich stand neben mir, wenn ich so Sätze sagte wie: „Oh! Das kann doch gar nicht für mich sein!“ Das war nicht ich. Ich spielte falsch.
Belohnungsaufschub wird im allgemeinen als positiv bewertet. Man erinnere sich an das Experiment: Ein Kind darf ein Gummibärchen gleich essen oder es wartet noch eine Weile und das Gummibärchen bleibt auf dem Tisch liegen und wenn die Zeit verstrichen ist, gibt es noch zwei Gummibärchen dazu. Eine lohnenswerte Kulturtechnik, das Kind lernt, undurchschaubaren Mechanismen zu vertrauen und, daß schnelle Triebbefriedigung nichts bringt. Die gesamte Zinswirtschaft und der Kapitalismus funktionieren so.
Aber irgendwann wurden die drei Gummibärchen für manche von philosophischen und religiösen Konstrukten ersetzt. Sie waren plötzlich das Seelenheil oder der irgendwo in der Zukunft liegende Kommunismus. Es kam nämlich noch ein Disziplinierungskniff dazu. Nicht die einfache, pragmatische Lehre: Entweder jetzt ein Gummibärchen oder später drei, das kannst du entscheiden. Sondern die moralische Botschaft: Du wirst von Experimentführer nur geliebt, wenn du dein eines Gummibärchen nicht willst und daran glaubst, es wird irgendwann drei geben. Schönes Machtkonstrukt, nicht wahr? Gleichzeitig ein schönes Ohnmachtskonstrukt: Der hat gesagt, ich darf das Gummibärchen nicht essen, sonst bekomme ich nicht irgendwann drei und außerdem hat mich keiner mehr lieb.
So scheidet sich die Welt – grob konstruiert – in die, die ihre Gummibärchen essen oder aber auch nicht, je nach dem, ob sie Hunger haben oder nach einer Weile mehr Gummibärchen wollen und die, die hoffen, dereinst für ihren Verzicht belohnt zu werden und derweil froh sind, keinen Ärger zu haben.
Das hat dann so schöne Auswüchse wie: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ oder „Wenn du kein Lungenhaschee magst, denk an die armen, hungernden Kinder in Afrika!“ Weil es sich irgendwann verselbständigt und der Verzicht allein schon selig macht und mit der Heiligung von Entsagung und Verzicht die Verlust- und Versagensangst gedeckelt wird.
Was mich zu dieser Gedankenakrobatik von Stöckchen zu Hölzchen auf Knöpfchen bringt? Die bösen und giftigen Kommentare unter dem Blogartikel, in dem Don Alphonso seine Bewunderung über die gelassene Mutterschaft von Madame Modeste äußerte. (Inclusive Unterstellungen, die Madame wäre eben vom Leben bevorteilt und dafür sollte sie sich schämen oder wenigstens Schuldgefühle haben. Schon sehr interessant, dass man für Begabung, viel Arbeit und Fleiß auch noch gestraft werden darf.)
Nee, als Mutter eines Kindes darf man es sich auch nicht gut gehen lassen. Man sollte zu einer Sorgenkuh mit Funktionsjacke und fettigem Haar mutieren, die immer am Rand des Nervenzusammenbruchs balanciert und ihren Mann höchstmöglich ignoriert, um schon mal den Weg für die Geliebte freizumachen.
Komische Welt.
Der ganze Kommentarstrang ist ein einziger Beleg für die neulich in der Presse publizierte These, nach der Frauen wegen des in Deutschland verbreiteten Bildes, wie man als Mutter zu sein hat, weniger Kinder bekommen. Einem solchen Bild der selbstlosen Madonna kann man nicht nur nicht gerecht werden – so will man ja auch nicht sein.
Ja, mit dem Theater, das man heutzutage um Kinder macht, hätte ich verzichtet.
Das ist tatsächlich augenfällig, daß unter den old-school-Bedingungen sich beide Seiten ins Knie schießen. Männer werde zu Zahleseln degradiert, Frauen zu Dienstmädchen. Das ist unzeitgemäß.
Nicht umsonst gibt es so einen großen Gebär- und Zeugungsstreik.
jetzt wollte ich etwas schlaues über belohnungsaufschub usw. schreiben. da stolpere ich über zuletzt erwähnten kommentarstrang. nun ja, verstehen über das eigene verständnis hinaus ist ein schweres geschäft.
Ok, und Herr Buddenbohm hat sich bei seinen Herzdamengeschichten schoin gewundert, dass solche Aussagen wie jene Frau Modestes ohne Gift & Galle in den Kommentaren möglich sind. Jetzt ist klar, wo die Anspuckerei geblieben ist – bei Frau Modeste traut sich offenbar niemand, weil schließlich ist man nicht nur unverschämt, sondern auch feig.
Was Ihre Worte angeht:
In einem Teil meiner Familie war es ähnlich. Es gehörte zum guten Ton, zu warten, bis man selbstverständliche Dinge bekam, man nahm sie sich nicht. Man artikulierte oft nicht einmal, was man wollte, das war unbescheiden und bäh. Bei Geschenken begann ein grausames Theater. Man zierte sich, wollte das Geschenk nicht annehmen, gab es zurück, mit der Bemerkung, man sei das nicht wert, nahm es dann doch, verbunden mit der Bemerkung, es es viel zu teuer und man bräuchte es doch gar nicht, in diesem bescheidenen Leben, das man führe… (Aber wehe man bekam nicht das, was man mit bedeutungsvollem Schweigen erwartete!) Es gehörte auch dazu, dass man Geschenke nicht benutzte, sondern schonte. Schokolade verdarb, Cognac verflog, in Mohairschals nisteten Motten. – War es doch alles viel zu gut. Ich sah mir das als Kind, in meiner üblichen Haltung – schweigend, mit großen Augen daneben stehend – an. Die Großmutter, die mich erzog, hasste diesen bigotten Bescheidenheitsterror, hinter dem meist ein geharnischter Anspruch steckte, was gut und richtig zu sein hatte.
Treffender kann man es nicht formulieren. Über die geschilderten Allüren könnte ich ein Buch schreiben.