Family Therapy

Familie, das ist das Netz, das dich trägt. Zäh gewebt aus Blut, Tradition und Gefühlen. Manchmal zur Überraschung aller leicht und schwebend, oft harsch, derb, in die Abgründe der anderen mitreißend.
Die Großmutter, die am wenigsten Freude am Leben hatte, ist nun 90 geworden.
Das Leben sah aus ihrer Sicht so aus:
Krieg: Mann nicht da, Kind stirbt fast nach der Geburt. Nachkriegszeit, Tuberkulose, Heilstättenaufenthalte, andere schwere Krankheiten (Gallensteine, Zysten, Myome etc.), Mann hat einen Herzinfarkt.
Die 70er: Mann stirbt mit 52, Witwendasein, plötzlich arbeiten müssen wegen Rente und Lebensunterhalt, Kinder kümmern sich nicht genug, Fürsorge für Enkel und Urenkel, nahe Nachbarin stirbt plötzlich, kein Mann ist wie der Verstorbene.
Die Jahrtausendwende: mehr Krankheiten, Einsamkeit, unaufhaltsames Alter, kein Kontakt zu den ohnehin raren Freunden, die Kinder kümmern sich, aber es ist nicht genug.
Ich gebe mal eine andere Sicht dagegen:
Krieg: Mann muß nicht an die Ostfront, ist nicht lange in Gefangenschaft, Kind überlebt schwere Erkältung mit drei Wochen.
Nachkriegszeit: die Tuberkulose überlebt, Kind ist sehr klug und fit, Mann macht Karriere, sie muß nicht arbeiten gehen, kann sich um ihre Gesundheit und die Familie kümmern.
Die 70er: Nach dem Tod des Mannes holen die Kinder sie in ihre Stadt und helfen ihr beim Berufstart, tolle Nachbarn, noch nicht zu alt für einen zweite Ehe, mehr Wohlstand durch viel Fleiß.
Die Jahrtausendwende: Hohe Witwenrente nach dem Mauerfall durch Bergmannsjahre des Mannes, Tochter kümmert sich sehr, trotz diverser Alters-Krankheiten klar im Kopf und fit, gute medizinische Versorgung, WG-ähnliche betreute Wohngemeinschaft.
So unterschiedlich kann man ein Leben beschreiben. Für meine Oma war das Glas immer halb leer und sie konnte auf keinen Fall etwas an ihren Lebens-Umständen ändern. Glücklich waren nur die anderen. Weil sie mehr hatten, bekamen, waren. Darüber beklagte sie sich immer, anhaltend, sehr laut und bei jedem. Und dann straft sie der liebe Gott auch noch damit, daß sie sich bis zum 90. Lebensjahr anzusehen hat, daß es anderen besser geht.
Sie schnitt sich aus Fotos heraus: Ich kann meine häßliche Fresse nicht sehen, später kommt sie garnicht mehr mit auf Fotos, sie betonte, weder singen, noch malen zu können, überhaupt ist ein Standardsatz „ich kann das nicht“, Menschen, die sich mit Freundschaftsabsicht annähern, findet sie blöd.
Selbst schöne Momente werden am Schluß irgendwie kaputtgemacht. Am Schluß jedes schönen Festes beginnt sie einen Streit, es kündigt sich schon eine Stunde vorher an, wenn sie immer stiller wird und ihre Mundwinkel nach unten rutschen, während um sie herum alle fröhlich und ausgelassen sind. Weil irgendwer sich falsch verhält, etwas falsches sagt, weil sie gerade jetzt mit jemandem schon immer etwas klären wollte, weil es ihr plötzlich nicht gut geht, etc., etc.
Schade eigentlich. Die alten Fotos zeigen eine vielleicht etwas angespannte, aber sehr schöne Frau mit dunkelblauen Augen, blonden Haaren, schönen Beinen und reiner, sahneweißer Haut.
Gestern saß ein altes Frauchen mit Witwenbuckel im Kreise der Verwandten. Eine Mischung aus heimlicher Freude, Genugtuung und böser Bitternis austrahlend.

Wenn Familie für etwas da ist, dann auch, um sich zu vergleichen.
Vielleicht haben ich meine depressiven Anfälle von ihr geerbt. Auf dem Gang zum Festort nahm sie mich beiseite und fragte mich, ob ich im letzten halben Jahr nicht auch Gedanken an Selbstmord gehabt hätte. Meine Antwort ließ sie zufrieden mit dem Kopf nicken.
Nein Oma. Wir stammen zwar aus dem selben Genpool, aber ich ziehe es immer noch vor, Schwierigkeiten zu überwinden und Glück zu genießen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Leben von kitty. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.

10 Gedanken zu „Family Therapy

  1. Halbleeres Glas. Beste Zusammenfassung.
    Ich glaube ja, dass man gegenüber solchen Menschen, selbst wenn sie zur Familie gehören, keine Verpflichtung hat.
    Wenn sie schon raunzen müssen, dann sollte man ihnen wenigstens die Genugtuung des Gerechtfertigtseins gönnen.

  2. Ich finde das einfach nur schade… wer so drauf ist, der macht sich (und anderen) das Leben nur unnötig schwer – und ich bin mir ziemlich sicher, daß auch die Krankheiten daher rühren (ich glaube ja nicht an Krankheiten, geschweige denn Medizin, sondern nur an eine verkorkste Lebenseinstellung, die auf Dauer krank macht…).

  3. Oh je – aber bei mir löst das eher Mitleid aus, ich fürchte nämlich, dass man sich die grundsätzliche Lebenseinstellung nicht ganz aussuchen kann.

  4. mir scheint, da hab ich mit meiner mehr glück gehabt. deren lebenseinstellung hab ich laut meiner mutter durchaus geerbt. das meint sie (also meine mutter) beleidigend, aber es IST ein kompliment;-)

  5. REPLY:
    Weißt du, bis auf die TBC waren das ganz „normale“ Krankheiten, an denen heute keiner mehr stirbt: früh erkannter Alterskrebs, Gallensteine und so. Es war nur immer ein Riesentheater darum.
    Da war jede Menge sekundärer Krankheitsgewinn dabei.

  6. REPLY:
    Die Schuldgefühle, die sie in mir und sicher im Rest der Familie auslöste, waren das Schlimmste. Uns geht es gut – Oma geht es schlecht und trotzdem tut sie noch so viel für uns.
    Es hat ewig gedauert, bis ich wußte: ich muß diese Frau nicht mit besonderer Rücksicht und Aufmerksamkeit behandeln, weil sie es so schlecht getroffen hat.

  7. REPLY:
    Das kann natürlich sein. Ich habe keine Ahnung, ob das Grundanlage oder spätere Konditionierung ist.

  8. REPLY:
    Ein gutes Erbe!
    Ich hab zwar so ein paar Anwandlungen von der einen, aber sehr viel von der anderen Omi. Und die war Familienadmiral.

  9. Schöne Gegenüberstellung der Perspektiven! Aber wer kann sich die Sicht schon aussuchen?

Kommentare sind geschlossen.