Die Eltern sind ohnehin ein Problem. Gott, wie das klingt. Prätentiös. Zickig.
Meine Eltern habe ich zuerst als Kinder erlebt. Abhängig von ihren Eltern, die mich aufzogen. Sie kamen mit ihrem Motorrad zu Besuch. Sie wurden mit Freßpaketen wieder verabschiedet. Ich sehe im Album Fotos von zwei sehr jungen Menschen, sonntäglich herausgeputzt, mit unsicherem Lächeln haben sie mich auf dem Arm, an der Hand. Ich schaue auf den Fotos meistens auf jemanden außerhalb des Bildes. Meine Großmutter, die an der Seite steht oder auf den Großvater hinter der Kamera.
Den Vater erlebe ich mit dem Lötkolben in der Hand. Über Röhrenradios gebeugt oder den Kopf im Innenleben des Fernsehers. Nicht anfassen! Was er schöpft und beherrscht, ist verbunden mit der dramatischen Gefährlichkeit von etwas Unsichtbarem. Erst ist es elektrischer Strom, später dann radioaktive Strahlung.
In der zusammengeführten Familie, der ersten gemeinsamen Wohnung, klingelt es an der Tür. Der seit einer Stunde erwartete Vater steht da. Schwankend, laut, eine Zigarre in der Hand. Er hat seinen ersten wissenschaftlichen Vortrag mit Whisky gefeiert und den Schlüssel verloren. Was in anderen Familien Stoff für gutmütige Anekdoten ist: ich hab dich damals mit Klamotten ins Bett gesteckt, Herrgott, hast du gestunken, ist Anlaß für ein Riesendrama. Mit Kleidern, die in Koffer gepackt werden und angedrohter Aufkündigung von Wohnung und Partnerschaft. Ich stehe da und denke: Aber ich bin doch grade erst hier. Wo soll ich denn jetzt hin?
Der Teufelskreis, Mann säuft, Frau nörgelt (Was war zuerst da?), dreht sich vierzig Jahre lang, mal schneller, mal langsamer.
Wir Kinder stehen mal im Zentrum, mal an der Peripherie. Sind Ziel volltrunkener, pathetischer Wortschwälle, beschämte Zuschauer peinlicher Auftritte oder Kummerkasten und Beschützer einer tief gekränkten Frau.
Es gibt wenig, worauf Verlaß ist bei diesem Menschen. Er löst seine behauptete und praktizierte bulldozerhafte Unerschütterlichkeit immer wieder mit Alkohol auf. Dann kann er über Gefühle sprechen, nur keiner hört ihm zu. Dann kann er Konflikte austragen, aber seine Aggressionen sind gefährlich. Heute ist er der nette Kumpel, morgen der steife, autoritäre Vorgesetzte, übermorgen der Haustyrann. Immer wieder ist er der Mensch, den wir im Dunkeln ängstlich und schlaflos erwarten. Dessen unsicherer Schritt durch die Straßen des Neubauviertels hallt. Der ewig braucht, um die vier Treppen hinaufzukommen. Nach der Zeit, die er braucht, um die Wohnungstür zu öffnen, können wir auf seinen Zustand schließen. Was kommt? Fällt er ins Bett und beginnt zu schnarchen? Dann muß ihn die Mutter morgen früh nur rechtzeitig zur Arbeit bewegen. Kommt er in unser Zimmer und beginnt einen Vortrag über unsere schulischen Leistungen? Will er Hefte kontrollieren? Schreien sie sich im Wohnzimmer an?
Ich bin so früh es ging aus diesem Spiel ausgesteigen. War weg. Erst innerlich und so bald es ging auch räumlich. Ich zog bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus.
Jahrelang gab es eine friedliche Koexistenz der Distanz. Fing meine Mutter an, sich zu beklagen, wies ich sie darauf hin, daß sie das seit Jahrzehnten mitmacht. Nach meinem desaströsen 18. Geburtstag beherrschte sich mein Vater auf allen Feiern, die um meinetwillen stattfanden. Scheinbar war ich in meiner autoritären Art seiner Mutter, KKM, so ähnlich, daß er mich respektierte.
In den Monaten, in denen KKM im Sterben lag, kamen wir uns zum ersten Mal etwas näher. Er rief mich oft an und sprach lange mit mir. Ich habe nie vorher solche Gespräche mit meinem Vater geführt. Die verächtlichen Sätze meiner Mutter blockte ich ab. Er käme von der Arbeit, würde sich betrinken und dann um seine Mutter weinen. Ein oder zwei Mal sagte ich ihm: Hör auf, dich abzuschießen! Er überhörte das natürlich.
Der Tag vor der Beerdigung brachte das übliche Szenario von Unzuverlässigkeit und Enttäuschung. Er könne morgen nicht kommen, er sei krank, bekäme keine Luft mehr. Meine Mutter zog gleich. Dann käme sie auch nicht.
Natürlich bin ich mit Mitte 40 alt genug, diesen Teil der Familie zu repräsentieren. Ich wäre nicht allein gewesen. Der Bruder, das Kind, HeMan, alle waren da. Aber ich habe es nicht akzeptiert. Meine Forderung war eindeutig. Ich möchte mich einmal im Leben auf euch verlassen können! Ich habe mich damit durchgesetzt.
Gestern sitze ich bei ihm im Krankenhaus. Er erzählt vom Auf und Ab von Puls und Blutdruck, von Blackouts. Die Äußerung des Arztes, daß er glücklich sein kann, in diesem Zustand noch zu leben, hat ihn im Krankenbett liegend zusammenbrechen lassen. Zwei kleine Herzinfarkte, einer davon wahrscheinlich kurz vor der Beerdigung, eine verschleppte Lungenentzündung, fadendünner Blutfluß in versotteten Herzarterien und das begleitet von 70 km Arbeitsweg, noch dreimal wöchentlich hin und zurück, Sportclub und Training, anschließend Umtrunk, Arbeit am Schreibtisch mit der Rotweinflasche daneben, der schimpfenden Frau und den Besuchen bei der sterbenden Mutter.
Ich merke, daß er sich freut, daß ich gekommen bin, auch wenn er es nicht richtig zeigt. Im Zimmer sind noch zwei röchelnde Greise, wir können nicht offen reden. Ich möchte ihn schütteln. Ihm sagen: Hör endlich auf mit dem Scheiß! Tu was für dich! Leb endlich! Nein, das muß er selbst wissen.
Ich frage ihn nach einem Badesee in der Nähe, denn das Krankenhaus liegt fast schon im Spreewald. Er meint: Tiefer See. Da habe ich doch mit euch immer gehalten, wenn ich euch in den Ferien nach Leipzig zur Tante gefahren habe. Ich erinnere mich. Eine Badestelle direkt an der B68. Die zweite war ein Tonstich bei Dessau, dort schlitterte man über das tonige Ufer ins Wasser.
Wahrscheinlich waren wir die einzigen Kinder, die auf der Fahrt in die Ferien zweimal baden gegangen sind.
Er verabschiedet mich schnell als das Essen kommt. Wir fahren zum Tiefen See und schwimmen lange im kalten Wasser.
Heute wird mein Vater in die Herzklinik verlegt. Für eine Herzklappe aus Schwein sei er mit Mitte 60 zu jung. Er bekommt eine Metallklappe, die dem Herzschlag ein Klick hinzufügen wird. Eine Lebensmahnung, wie das Ticken einer Uhr.
Großartiger Text.
Sozusagen die positive Kehrseite des Suffkaters… ^^
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fiel mir auch auf, daß mein to much weißwein-depri mit diesem thema zusammenfiel… der appel fällt nicht weit vom stamm.
Liebe Kitty Koma,
seit einer Weile lese ich deine (ich glaube, wir sind fast ein Jahrgang -ich : 1966- und es wär mir angenehmer du zu schreiben) Texte und bin davon tief berührt, manchmal lese ich und denk, Wahnsinn!!! Unsere Geschichten sind sicher nicht direkt miteinander zu vergleichen, aber vieles von dem, was du schreibst, kann ich nachvollziehen.
Als ich deine beiden neuesten Beiträge las, haben sich meine Finger -endlich- verselbständigt und schreiben gemeinsam mit meinen Gefühlen diesen Text.
Starke Frau DU.
Einfühlsame Frau DU.
Gefühlvolle Frau DU.
Fordernde Frau DU.
Danke dafür, dass du mich an deinem Leben so teilhaben lässt, manchmal auch ein Trost für mich.
Liebe Grüße aus der Stadt deiner Tante,
Petra
uff…
ich denk an dich.
ein wenig o.t., aber der text wirft bei mir die oft wiederkehrende frage auf, wann es „am besten“ ist kinder zu haben. irgendwie finde ich „körperlich nicht mehr ganz knackig aber im kopf fundamentiert“ gegenüber „körperlich jung aber geistig zu jung oder zu alt“ mit fortlaufender anzahl von gehörten lebensgeschichten inzwischen klar im vorteil …
[ich wäre mit 20 zwar stets bemüht, aber im grunde ein völlig überforderter, unreifer und katastrophaler vater gewesen]
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obwohl auch ich eine junge mutter war, muß ich dir zustimmen.
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dann kann ich ja mal schauen, ob ich es noch hinbekomme ein alter vater zu werden … (o;
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danke!
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…und immer schön die türen auflassen!
Ein ganz wunderbarer Text mit traurigem Inhalt.
Mehr ist dazu nicht zu sagen. Mehr wäre zu viel.
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sowieso!
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ein geborgene und ungeborgene kinder als paar, das kann schwierig werden, muß aber nicht. manchmal heilt der „intaktere“ partner auch. manchmal knallts. wenn der andere ins naiver selbstverständlichkeit in minenfeld gelaufen ist.
ich rufe mich immer mal zur ordnung und sage mir, daß man jenseits der 40 sich selbst so geprägt haben sollte, daß die prägungen der kindheit nicht mehr relevant sind.
das stimmt aber nur bedingt. wahrscheinlich hat jeder mensch diese tief aus dem inneren kommenden reaktionen, die mit seinem erwachsenen sein nichts zu tun haben. und die kindlichen prägungen sind nicht nur negativ. deshalb kann ich zb. so angstfrei und ausdauernd auf dem offenen meer schwimmen. deshalb kann ich aber auch nicht allein sein, wenn ich krank bin und kann dauerhaft keine living apart together-beziehung aufrechterhalten.
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danke für den tipp! ihr letzter tipp war übrigens auch sehr gut.
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einfach ran. kinder sind was wunderbares.
großartige beschreibung!!! und ein wirklich schöner text!
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da steckt viel wahres drin. vor allem was das „heilen“ durch den intakteren partner angeht. das ist nur möglich, wenn der „ungeborgene partner“ um seine eigenen prägungen weiß, und zwar als wissen aus eigener erkenntnis, dieses wissen für sich selbst akzeptiert und bereit ist, sich „heilen“ zu lassen. klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. aus meiner erfahrung laufen die meisten menschen vor ihrer eigenen erkenntnis davon – und damit auch vor dem „intakteren“ partner, sei es durch anschreien, schweigen, lügen oder betrügen. letztlich geht’s um beziehungsarbeit, harte arbeit.
für mich selbst wäre diese form der arbeit unendliches glück, denn mit wem könnte man mehr an sich selbst und am anderen arbeiten und lernen und vorwärts kommen und kompatibel werden mit dem leben und all seinen höhen und tiefen, hellen und dunklen seiten, als mit dem partner, dem menschen, der einem am nächsten steht.
Ich frage mich, wie die Einschränkungen aussehen, die eine solche Kindheit für das eigene Leben bringt.
Gerade vor wenigen Tagen habe ich gedacht, dass es vielleicht nicht gut möglich ist, das sich Liebende aus Familien mit unterschiedlicher Nestwärme auf die Dauer vertragen können.
Der (bestechende) Text erinnert mich wieder daran.
ist großartig – das ist die eine Sache. Die andere ist die, dass ich Ihnen ein Buch empfehle, welches ich vorgestern fertiggelesen habe: „Das Gesicht des Mondes“ von Alice Sebold. Eine Frau erstickt ihre alte Mutter, und in den vierundzwanzig Stunden nach dem Mord rollt sich ihre Familiengeschichte voller Abhängigkeiten auf. Manche Parallelen zu meiner eigenen verkorksten Kindheit haben mir buchstäblich den Atem verschlagen, und wenn ich Ihren Text oben lese, denke ich, dass auch Sie mit diesem Buch etwas anzufangen wissen.
Hm, hast mich gerade an meine Kindheit erinnert, ob ich das gut finden soll?
Wir sollten wenigstens ihre Fehler nicht nachmachen, denke ich manchmal. Vielleicht ist das eigentlich Sinn des ganzen Ärgers, den man mit Eltern haben kann.