Der gestrige Tag brachte ein Gespräch mit einer Dänin im Alter meiner Tochter.
Sie versucht, in Berlin in der Kulturbranche einen Job zu finden. Viel Mut machen konnte ich ihr nicht. Natürlich gibt es Arbeit, nur gut oder überhaupt bezahlt ist diese Arbeit selten. Wenn man in den 30ern in der Kulturbranche nicht in einem Netzwerk steckt, das sich zunehmend etabliert, rotiert man lange und quälend in prekären Jobs herum.
Nein, ich formuliere es noch einmal optimistischer: Um die 30 rum hat man das Gefühl, man kommt nie da an, wo die anderen sind und rennt ständig Zügen hinterher, die bereits fahren. Die Besonderheit für die Kulturbranche ist, dass die Zahl derer, die versuchen, auf fahrende Züge aufzuspringen, überdurchschnittlich hoch ist.
Wir redeten über die heutige Zeit, in der junge, flexible Menschen überall in Europa oder auf der Welt arbeiten. Kein Job in Stockholm? Versuchs in London oder Berlin!
Offen sein für alle und alles, nicht abgrenzen, nicht zumachen. Tolerant sein für Fremdes. Andere Kulturen akzeptieren.
Mein Kommentar zur Jobsituation grenzte wieder ein und erdete: Es macht wenig Sinn, nur nach englischsprachigen Jobs zu suchen. Die Berliner Expats leben in einer Blase und haben noch höhere Konkurrenz.
Nun aber zu hygge. Unser Gespräch ging nämlich weiter. Sie erklärte mir hygge. Wir Deutschen kennen ja nur die konsumistische Seite: Zu Hause sitzen, nicht rumrasen, die Wohnung hell streichen, kuschelige Kissen und Decken ausbreiten und bei Kerzenschein Kakao trinken.
Es geht aber darüber hinaus um enge Bindungen. Bindungen an Orte und Menschen, ob Familie, Nachbarn oder Freunde. Man hat ähnliche Ziele, tickt ähnlich, hilft sich, schafft sich Geborgenheit und Sicherheit. Die Nebenwirkung ist, dass es sich um enge Zirkel handelt, in die Fremde nur nach eingehender Prüfung gelassen werden.
So weit ich sie verstand – wir sprachen ausschließlich Englisch und ich bin nicht so superfit in dieser Sprache – sah sie hygge kritisch. Zu hermetisch, zu ausgrenzend.
Dann wechselte plötzlich das Thema und ich kam im Verstehen kaum hinterher. Es ging um Harressment, um unangenehme Erfahrungen im Netz, um feindliche Menschen allüberall da draußen.
Und da hatte ich den luziden Moment. Manchmal ist es ganz gut, nicht jedes Detail zu mitzubekommen, um das große Ganze sehen zu können. (und ich habe sicher ne Menge durcheinander gewürfelt.)
Ich frage mich oft, warum die jungen Menschen in meinem Timelines der sozialen Medien so viel darüber klagen, dass sie Belästigung und Feindseligkeit erleben oder mit ansehen und warum diese Generation das Konzept safe space erfunden hat.
Gleichzeitig predigen sie bedingungslose Akzeptanz von noch so kleinteiliger Diversität.
Ich vermute mittlerweile, dass diese Verletzbarkeit systemimmanent ist.
Je ungebundener, flexibler, offener, entgrenzter, desto mehr kollidieren diese Leute wider ihr Erwarten mit diversen Menschen und Lebensstilen. Mehr noch, sie sind schutzlos gegenüber Kollisionen und Reaktionen, weil sie selbstgewählt nirgends Deckung und Rückhalt haben – dafür bräuchte es enge Kreise, Kontinuität und bindende Arrangements. Und – auch wenn ich mir hier nicht sicher bin – sie glauben, alle denken so wie sie, bis es die ersten ernsthaften Interaktionen mit dem Anderen gibt. Vielleicht gab es in diesen Biografien auch nie großartige Erfahrungen mit Ablehnung, Feindseligkeit oder Desinteresse, weil das Umfeld immer wertschätzend alles gelobt und Probleme aus dem Weg geräumt hat.
Um diesen Double Bind „Ich bin ok. und akzeptiere alles, das egal wie, anders ist“ vs. „Da sind Leute, die halten sich auch für ok., die sind anders und drücken das mir gegenüber auch aus“ auszuhalten, wird das Böse auf ein paar Stereotype projiziert und der Rest verdrängt. Aggressoren, Belästiger und Machtmißbraucher sind ausschließlich alte weiße Männer. (Papa?) Je nach Situation wohlhabend und etabliert oder Angehörige der Unterschicht.
Alle anderen, die Freunde oder zu Missionierende sind oder wegen ihrer Opferstatus zu zu den Edlen zählen, dürfen keine Verhaltensweisen von Bösen zeigen. Auf keinen Fall. Wenn sie es tun, sind sie sicher traumatisiert. Also wissen eigentlich nicht, was sie tun.
Solche Moraljonglagen sind sehr energiezehrend.
So, genug der Küchenpsychologie. Es ist eine Altersfrage. Vielleicht. Das schiebt sich zurecht.
(Und ich weiß nicht, ob das nicht alles wirre Gedanken sind. Ich schlage mich seit zwei Tagen mit dem Text rum.)
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