Ich komme aus dem Entzücken über diesen Herbst gar nicht raus. Gestern morgen tauchten die Berliner Turmspitzen am Horizont peu à peu aus dem Dunst auf und dann kam die Sonne. Warm, golden, mild. Herrlich. Wenn es nach mir ginge, wäre es bis kurz vor Weihnachten noch so und dann gäbe es fett Schnee für einen Monat.
Der Graf packte mich ins Auto und wir fuhren zur Havelhöhe. Dort flanierten wir gemeinsam mit ungefähr 100.000 anderen Berlinern am Wasser entlang und überlegten, ob wir unsere Idee, einen Luxus-Rollator-Vertrieb (Swarowski-Kristalle, Wurzelholzintarsien) auf Sylt zu eröffnen, nicht aufbohren und eine Berliner Filiale „Arm, aber Sexy“ (Bunt lackiert mit Bierflaschen-/Kaffeepotthalter) dazu eröffnen könnten. (Vielleicht auch noch irgendwann in Freiburg den Vertrieb für die nachhaltige Variante aus Holz, Jutestricken und Recyclingmaterialien).
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, noch mal ins Wasser zu hopsen, aber es war zu viel Publikum da und außerdem habe ich nicht mehr diesen draufgängerischen Ehrgeiz von früher.
Im Park vom Gut Neukladow gab es Kaffee und Kuchen und wir saßen glücklich auf der Wiese. Was für ein herrlicher Flecken! Alte Obstbäume unten auf der Wiese, oben auf der Havelhöhe das alte Haus und alte Bäume mit buntem Laub.
Und endlich mal nicht in den 80ern piefig zu Tode saniertes Westberlin, sondern eine Location mit Potential und ein paar runtergekommenen, verlassenen Gebäuden.
Am Abend gab ich den Tempokoch und machte Coq au Vin. Dann gab es einiges im Fernsehen zumindest mal anzuzappen.
Tatort Stuttgart. Naja. Ich habe weggeschaltet, als die Peudo-Hipster-Ermittler in ihren 60er-Jahre Tweedmänteln aus einem brauen alten Porsche stiegen. Was für eine blöde Rumposerei. Am Schluss bin ich noch mal reingeraten, als diese kleine blonde New-Age-Hippe im Karnevalskostüm festgenommen wurde. Soll das ein Witz sein???
Blow. Oh mein Gott, schon wieder eine Vintage-Design-Orgie. Zwischendurch sah ich mir zur Beruhigung eine Meeresbodenreportage auf N24 an.
Dann GSI Göreborg. Hm. Sehr gut gemacht, ist mir aber zu brutal. Was mir noch auffällt, der wirklich schlechte, dumpfe Sound der Synchronisation.
Ok., weiter, ein Polizeiruf, Verlockung, auf 3Sat. Mal wieder eine quasireligiöse Abhandlung von Schuld und Sühne. Junger Mann mit behütenden, altmodischen Eltern, schnappt sich Geld, um einem Mädchen zu imponieren. Mit jedem Handeln verstrickt sich die Postbeamtenfamilie (denn die Eltern stehen wie eine Mauer für ihren Sohn) in tiefere Konflikte. Denn plötzlich gibt es einen Toten (ein Unfall natürlich), ist alles keine Jungendsünde mehr, wendet sich das Mädchen ab und zerbricht die Aussicht des Jungen auf eine Künstlerkarriere. Es gibt wieder einen von Gewissensbissen zerfressenen Helden, der heulend und zähneklappernd durch die Gegend wankt und kurz vor dem Durchdrehen ist. Eigentlich ein spätes bürgerliches Kammerspiel. Ein bisschen Ibsen, ein bisschen Strindberg, ein bisschen Tennessee Williams. Der DDR-Bürger scheint nur durch Schuld und vermessenen Glücksanspruch aus der Masse des eigentlich gesichtslosen, weil gleich glücklichen und loyalen Volkes herauszutreten und zum Individuum zu werden. (War mal früher ein Schimpfwort: „Sie Individuum, Sie!“) Der Kommissar ist wieder der Seelsorger, der am Schluss die Worte: „Sie hätten Verantwortung übernehmen müssen!“ spricht.
Für den späten Polizeiruf in den 80ern ist es typisch, dass es nicht mehr um „hier die verirrten Schafe, da der gute Onkel von der Staatsmacht“ geht oder um das Thema „die, die uns schaden wollen, bekommen die gerechte Strafe“. Die Auseinandersetzung mit individuellem Glücksanspruch, Familienmacht und Moral hatte 1985 in der DDR etwas zutiefst subversives. Dazu kommen Bilder von kaputten Straßen und löchrigen, grauen Fassaden, die man in einem Establishing Shot mal eben so untermogeln konnte.
Die 1985 gedrehte Folge (Regie Gunter Friedrich) hat einen sonderbaren Look. Als hätte es die bunten 70er nicht gegeben, sondern die Zeit wäre irgendwann in den 30ern stehen geblieben. (Was das Thema betreffend auch so ist. Die Organisation der Post ist nie geändert worden. Es gab tatsächlich eine alte, verstaubte Beamtenkaste in der DDR, wenn auch nicht zahlreich.) Die Eltern des Helden sind alt für DDR-Verhältnisse und leben in einem Haus, dessen Einrichtung von den Eltern übernommen scheint. Auch in den Postlocations: Schmallippige Werkbundästhetik in Braun- und Grüntönen, dazu Klinker, sparsam garniert mit hellem Dekor, ganz preußisch, mit kleinen expressionistisch-emotionalen Ausreißern. Die Mutter hat einen Bubikopf wie auf den Bauhaus-Künstlerfotos, der Vater ein Barlach-Gesicht. Sehr interessant, aber auch befremdlich. Ich bin erst viel später darauf gekommen, dass das kein Zufall ist, sondern ästhetisches Programm.
Spannende Sache…
Ich bin immer mehr dafür, die Polizeiruf-Folgen mal in den historischen Kontext zu setzen. Vielleicht ist das ja ein Promotionsthema für mich… Meine Diplomarbeit habe ich über Friedrich Theodor Fischers Faust-Parodien in Bezug zur Entwicklung des Deutschen Reiches geschrieben.
Spät habe ich dann noch in Gainsbourg reingeschaltet, aber nur, um zu beschließen, den muß ich mal ganz und in Ruhe auf DVD sehen.