Sonntagsmäander am Rande des Sommers

Frühjahr und Sommer sind für mich die Zeiten, in denen mein Leben stattfindet. Herbst ist Trauer über verronnene Zeit und Winter ist Überleben ins nächste Frühjahr. Nun steht endlich der Sommer vor der Tür.
Ich habe den Schrank voller Sommerkleider und ziehe täglich etwas anderes an. Nackte Füße in Sandalen und das notwendigst Schickliche an Kleidung lassen meinen Körper atmen. (Ich werde nie verstehen, warum manche Frauen im Sommer Stiefel tragen.) Die Welt um mich herum ist zumindest bei 22-25  Grad so, dass ich Wetter nicht als Wetter wahrnehme, sondern in der Luft schwimme wie in einem Aquarium. Und wenn mich der Pollenterror so gut in Ruhe lässt wie in diesem kühlen Frühjahr, um so besser.

Das letzte Wochenende nutzten wir zur Flucht. Der Graf stand vor einem einschneidenden Lebensereignis, er wurde ein Jahr älter und diesmal mit einer Null davor. Nichts, was er ausgiebig feiern wollte, er musste sich wohl erst einmal an den neuen Aggregatszustand gewöhnen.
Wir fuhren wieder zu dem Ort, am Fuße des Riesengebirges, wo wir die schönsten und entspanntesten Zeiten verbracht hatten, nach Schloss Wernersdorf, und ließen es uns gut gehen.
Das Haus war moderat belegt, man konnte sich gut aus dem Weg gehen und so langsam komplettiert sich auch der Garten und die Umgebung hinter dem Schloss, wo eine schöne Teichlandschaft ist.
Die Speisekarte hat sich von Gourmet-Convinence weg zu schlichteren, auch regionalen Gerichten verändert, die Bezug auf die Saison nehmen. Das mag ich und das freute mich sehr. Klar habe ich eine Luxusposition, wenn ich sage, verschnipptes Essen auf aufgeräumten Tellern kann ich jeden Tag haben, dazu muss ich nicht in Urlaub fahren. Aber selbst in Berlin bevorzuge ich handwerklich gut gemachtes Mutti-Futter mit guten, regionalen Zutaten.
Im Barocksaal fand am Wochenende eine Kommunionfeier statt, man musizierte und sang selbst und die kleinen Mädels in ihrem weißen Ornat tobten über die Wiese zum Spielplatz. (Die Kleider waren anders als ich sie kannte, die Mädchen sahen nicht aus wie Kinderbräute sondern wie Nonnen.)
Es kommen scheinbar zunehmend wohlhabende Polen als Gäste. Was mir voriges Jahr bereits auffiel, wie gut die Kinder erzogen waren. Neugierige, offene, freundliche und achtsame kleine Menschen. Die Erwachsenen sind höflich, gut angezogen (die Polin von Welt kommt natürlich mit 14-cm-Absätzen zum Frühstück) und rücksichtsvoll. Das ist immer eine gute Erholung, wenn man aus dem Ort der mit großen Schwenkbereich rotierenden Egomaschinen kommt.
Ich komme hier innerhalb von 24 Stunden in tiefe Entspannung. Nur mit Schwimmen, Baden, auf der Bergblick-Terrasse sitzen, Mittagsschläfchen und moderaten Gängen durch die Wälder (es gab grade Tannensprossen zu knabbern, die Walderdbeeren blühten noch).
wald
Dem Grafen ging es ähnlich und so verbrachten wir unsere Tage als mentales  und körperliches Knäuel, auf das immer mal ein Glas Champagner gekippt wurde.
Zwei Träume blieben übrig, ein kleiner und ein großer. Der kleine und leicht zu realisierende ist, mit Freunden hierher zurückzukehren. Im Spätsommer, wenn die Ernte in den Wäldern wartet. Man könnte in die Vorberge ziehen und Pilze und Beeren sammeln, während auf dem großen Grill Pulled Pork und Spare Ribs garen und am Schluss noch kurze Zeit ein Stück Reh(?), ein Karpfen oder Forellen und Kartoffeln in der Schale dazugelegt werden. Die Pilze würden gebraten und mit Fleisch, Fisch und hausgebackenem Brot gegessen, dazu gäbe es Kuchen von der besten Bäckerin der umgebenden Dörfer und am nächsten Tag würde aus den Beeren Marmelade gekocht. Kinder könnten mitgebracht werden und hätten Spaß auf dem Spielplatz.
Der große Traum ist wirklich groß. Es gibt einen kleinen Ort in den Bergen, da ließe es sich gut leben. (Aber da ich nun 35 Jahre vom ländlichen Leben rede und es nie realisiert habe, gehört das wohl in der Bereich Traum und bleibt dort.)

Da fällt mir noch etwas anderes ein. In Polen gibt es eine sehr Fast Food Kette mit Namen Smazalnia Ryb (=leckerer Fisch). Scheinbar ein Franchise-System. Das sind Holzhäuser, hinter denen ein großer Fischteich ist. Außen ist ein Räucherofen, innen eine Küche und ein großer Gastraum. Es gibt geräucherten und gebratenen Süßwasserfisch aus dem Teich – Karpfen, Aal, Wels, Barsch, manchmal auch Forelle (deren Aufzucht scheint zu aufwändig) aber auch Lachs und Seefische, dazu Krautsalat, Gurkensalat, Kartoffelsalat oder Pommes und diverse Sößchen. Eine super Idee, weil eigentlich alles frisch und ohne große Transportwege angeboten werden kann. Der Test im letzten Jahr war nicht sooo dolle. Zwei unmotivierte Studentinnen schmissen noch mal die Fritteuse an, sotten einen grätigen Fisch mit miesem Öl zu fetter Pampe und klatschten kühlschrank-kalte Salate dazu. Muß man nicht noch mal testen, aber die Idee ist Spitze. Es bleibt auf bessere Ausführung zu warten. (Vielleicht wandere ich ja auch aus und mache eine Fischbude im Schlesischen auf.)

Auf dem Rückweg machte wir einen kurzen Stopp in Görlitz und wandelten auf Pfaden der oberlausitzische Akademie der Wissenschaften. Man muss nicht nur den Barock-Zyklus lesen, um zu wissen, wie es da zugegangen sein muss.

Zurück ins Netz und die Aufreger meiner Timeline. Im Gegensatz zum Grafen, der das Westfalenblatt aus eigenem Erleben kennt, finde ich es nicht prickelnd, wenn eine konservative Kolumnistin weggemobbt wird. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Meinungen jenseits der Deutungshoheit einer selbsterklärten Elite in Zeitungen nicht zugelassen waren. Daher taugten diese Zeitungen prima zum nasse Schuhe ausstopfen, kein Mensch wollte dieses Gedöns lesen, das doch von einer ganz anderen (Wunsch-)Welt kündete als der existierenden.
Natürlich werde ich dann sofort gefragt, wie denn meine Meinung ist. Ob ich es vielleicht abwegig fände, wenn Menschen gleichen Geschlechts heiraten und Familien gründen. Das ist komisch, denn darum geht es gar nicht. Ich habe dazu seit Jahrzehnten eine progressive Meinung, wobei die Ehe als Legitimation für Zusammenleben mit der Subventionierung Ehegattensplitting etwas sehr westdeutsches ist.
Es geht dabei nicht um das, was ich denke, sondern ich finde es wichtig, dass auch Meinungen*, die aus dem letzten Jahrhundert kommen und für viele nur noch peinlich-hinterwäldlerisch sind, ihre Öffentlichkeit haben. Schließlich besteht Deutschland nicht nur aus Großstädten, sondern die konservativ-kleinbürgerlichen Traditionalisten (personifizieren wir sie nun als deutscher Michel, Biedermann oder Mecki) sind die Basis dieses Landes. Auch wenn uns, die wir uns nur zu gern als progressiv definieren, das nicht gefällt.
Ich halte es nicht für gut, wenn diese Leute irgendwann „Lügenpresse“ skandieren, weil ihre Werte in der öffentlichen Kommunikation nicht mehr vorkommen. Die Ressentiments gegen gleichgeschlechtliche Ehen mit allen rechtlichen Konsequenzen sind mir zwar fremd, aber europaweit riesengroß. Aber die Zeit wird über sie hinweggehen. Es macht weder Sinn, sich böse und verletzend darüber lustig zu machen und sich trotzdem als moralisch überlegen zu fühlen, noch nutzt es etwas, solche Meinungen aus der Presse auszuradieren und so zu tun, als wären sie nicht da. Sie fallen dann nur in den Schatten und haben eine üble Eigendynamik.

Gleiches gilt für Menschen, die in noch anderen Zeitungen schreiben, was wiederum Leuten mit großer Reichweite und angemaßter Deutungshoheit nicht passt. Seien die in Verschiss geratenen Zielscheiben nun nassforsche Jungmaid mit Adelsnamen oder von Beruf Sohn aus besserem Hause (den ich seit Jahren mit Amüsement lese, weil er so wenig Mainstream ist, auch wenn ich mich manchmal tierisch über ihn aufrege).** Ich bin doch verdammtnochmal froh, dass in Zeitungen Dinge stehen dürfen, über die mal die oder mal die Gruppierung sich erregt. Und denke an Tucholsky und von Ossietzky und all die Leute, die in der DDR Zeitungen mit Stempel und Linolschnittmesser gemacht haben, weil der Zugang zu Druck- und Hektografiermaschinen unter Kontrolle stand.
Eine funktionierende Demokratie hält Reibung zwischen unterschiedlichen Meinungen aus. Und der kindliche Wunsch, dass diejenigen verschwinden mögen, die nicht das sagen, was man selbst denkt und erwartet, steht Erwachsenen schlecht zu Gesicht.

Und gleichzeitig frage ich mich, ob das überhaupt noch relevant ist. Es ist erstaunlich, wie viel Bedeutung die Netzkommunikation Texten beimisst, die auf Papier stehen – oder noch besser – Online-Anhängsel von Print-Publikationen sind. So als würde der Streitwert oder die Relevanz einer Meinung steigen, sobald sie unter dem Dach eines Verlages geäußert wird. Heut noch, wo jeder ins Internet schreiben kann. Erstaunlich.

Noch ein wenig Literatur (ja, heute mänandert es schwer rumpelnd Granit auf Gußeisen):

Vier Tagereisen von Paris in einem Schlammloch, das meiner Familie gehört (…) lebt etwas zwischen Mensch und Vieh. ich hoffe, es in diesem Leben nicht zu sehen, oder in einem anderen Leben, wenn es ein andres Leben gibt. Der bloße Gedanke an seinen Geruch treibt mir den Schweiß aus allen Poren. (…) Aber manchmal träume ich, dass es aus meinen Spiegeln tritt auf seinen Füßen aus Stallmist und ganz ohne Gesichter, aber seine Hände sehe ich genau, Klauen und Hufe, wenn es mir die Seide von den Schenkeln reißt und wirft sich auf mich wie Erdschollen auf den Sarg, und vielleicht ist seine Gewalt der Schlüssel, der mein Herz aufschließt.
Heiner Müller, „Quartett“

Die Angst derer, die sich für großstädtische Elite hielten, vor den anderen.

Und da ich gerade dabei bin, noch mal Heiner Müller, der Schluss des Monologes vom Mann in Fahrstuhl aus „Der Auftrag“

Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.***

Großes Kino, oder? Heiner Müller ist dieses Jahr 10 Jahre tot und er hat mich geprägt wie kein anderer Dramatiker. Ich saß atemlos auf der Probebühne in der Probe zu „Der Auftrag“ und dachte immer: „Au weia, das darf man doch garnicht sagen!“
(Die Premiere fand, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht statt. Zumindest nicht in Originalbesetzung. Einer der Schauspieler wurde in Berlin verhaftet, wegen staatsfeindlicher Zusammenrottung. Er bekam einen Blitzprozeß, ging für anderthalb Jahre nach Bautzen und wurde abgeschoben. Eine Bekannte war sehr sicher, dass er wohl die falsche Frau im Bett hatte und jemand sich gerächt hatte. Der Mann hatte im Westen noch eine ziemlich gute Karriere. Auf Fragen nach diesem Ereignis antwortet er nicht.)

Nachtrag, da wir bei Aufregern waren. Ich habe scheinbar Anfang der 90er in Westberlin noch den letzten Rest dessen, das jetzt Pädophilie-Skandal heißt, am Rande mitbekommen.
Eine Mitschülerin vom Kind sang einmal, als ich die beiden von der Schule in den Hort begleitete, ein Lied, das davon handelte, wohin ein Mensch anderen Menschen seinen Penis stecken könnte. Da waren Details dabei, die ich grade mal mit 13 kannte, aber sicher nicht mit 6 Jahren. Ich fragte sie, woher sie das Lied hätte und sie sagte, das hätte ihnen ein Erzieher letztes Jahr im Kinderladen beigebracht. Ich fand das etwas beunruhigend und sprach die Mutter darauf an, die wiederum abwiegelte: Das sei ein hardcore Kinderladen in Kreuzberg gewesen, da hätten sie solche Lieder gelernt. Alles ok., das sei halt dort so.
Ich zuckte die Schultern und dachte mir ok., das ist scheinbar diese sexuelle Revolution im Westen mit ihren ganz wilden Auswüchsen und überlegte noch eine Weile, wie ich den Kontakt und seine Inhalte zwischen den Kindern kontrollieren könnte. Aber dann hatte sich das auch erledigt, das Mädchen wurde ein Jahr zurückgestellt.

 

*womit ich meine „ich finde es nicht gut“ und nicht „man sollte teeren, federn, wo ist die nächste Laterne?“, weil Meinung ist im Idealfall eine Ich-Botschaft und keine Forderung andere betreffend
**in meiner Timeline entwickelten sich scharfe Diskussionen unter gestandenen Herren. woanders wären die wohl mit „aufs Maul“ ausgetragen worden
***Auch eine Art, sich mit Othering zu beschäftigen.

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3 Gedanken zu „Sonntagsmäander am Rande des Sommers

  1. Pingback: Results for week beginning 2015-06-01 | Iron Blogger Berlin

  2. Liebe Kitty,
    nicht zehn, sondern zwanzig Jahre ist er nun schon tot, „unser“ Heiner Müller, der auf mich viele Jahre lang einen ähnlich starken Einfluss ausgeübt hatte wie auf Sie (und das nicht in erster Linie deshalb, weil er vor vielen Jahrzehnten mal mit meiner Mutter in Waren/Müritz in eine Klasse gegangen war). Ich wollte gestern Abend schon schreiben, hielt mich dann zurück, aber da bis heute niemand Widerspruch eingelegt hat, dachte ich, dass ich es jetzt doch tun muss. (Ich kommentiere ganz, ganz selten.)
    Immerhin, da haben wir quasi eine Gemeinsamkeit, die Sie offenbar nicht mit allzu vielen Ihrer Leser und Leserinnen teilen.
    Ich, die ich ein weniges älter bin als Sie und vor vielen Jahren an der Humboldt-Universität mal was Ähnliches studiert habe, grüße Sie jedenfalls sehr herzlich und
    möchte mich bei der Gelegenheit für die vielen Jahre, die ich schon bei Ihnen mitlese, einfach bedanken.

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