Dieser Tag

Für die Eltern war es der Tod von Stalin oder der Mord an Kennedy. Für uns waren es der Fall der Mauer und 9/11.

Ich saß im Büro und musste etwas tun, was ich sonst standhaft verweigerte: Ich rief einen Produktionsleiter wegen einer Vertragsverhandlung an, denn er ließ mich schon recht lange warten. Man lässt sich eigentlich anrufen, das ist oberstes Gebot, damit die Verhandlungsrichtung stimmt. Doch die Klientin, um deren Job es ging, war ungeduldig und drängelte.
Im Produktionsbüro war die Sekretärin dran, die verdruckst meinte, der Chef sei nicht da. Ich glaubte ihr nicht recht und fragte nach, wo er denn sei. Wenn jemand die Verhandlung verzögert und sich verleugnen läßt, ist das oft kein gutes Zeichen für das Projekt.
Er sei im Hotelzimmer, meinte sie. WTF?, dachte ich, mitten am Tag, in der heißen Phase? Ja, meinte die Frau, meine Verwunderung spürend, er sitze vor dem Fernseher und setzte hinzu: Da sei ein Flugzeug abgestürzt, in dieses Handelszentrum.
Alle verrückt geworden!, war mein Fazit aus diesem Gespräch, verarschen kann ich ich allein und ließ mir die Nummer vom Hotel geben, vor meinem Inneren Auge das Gebäude, das einmal Internationales Handelszentrum von Honeckers Gnaden war und in Berlin direkt am S-Bahnhof Friedrichstraße liegt.
Ich wählte die Nummer vom Hotel. Der Mann meldete sich und wartete gar nicht ab, was ich wollte.
„Ich gehe heute bestimmt nicht mehr ins Büro. Schalten Sie den Fernseher an, da zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen. Das ist Krieg, das ist kein Zufall.“ Ich hatte noch immer den Gedanken, dass der Mann schlicht verrückt geworden war.
Es gab im Büro keinen Fernseher und also suchte ich nach Informationen im Netz. Mager, aber es war wohl keine Lüge, da war was passiert. Ich wählte mich in meinen alten AOL-Account ein und sah, es stimmte. Ich sah die Fotos der rauchenden Türme. Auf dem Ticker wurde der Zusammenbruch des einen gemeldet. Es gab einen Videostream, aber der war überlastet. Ich ging über den Hof in die Wohnung. Ich hatte seit Jahren tagsüber das Büro nicht verlassen. Arbeitsethos. Seit dem Telefonat mit dem Mann im Hotel hatte ich das Gefühl, ich würde gleich aufwachen. Das, was da passiert sein soll, klang nach Hollywood-Action, nicht nach der Realität.

Es war das zweite Mal im Leben, dass ich vor dem Fernseher saß und spürte, dass sich die Welt mit lautem Knirschen in den Angeln bewegte. Beim Mauerfall heulte ich vor Glück, jetzt war ich erstarrt. Ich sah die Bilder in Endlosschleife, schaltete schaltete reflexartig auf CNBC und sah die Börsenkurse fallen. (Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob das stimmt oder ob die Börsen geschlossen wurden.)
Ich verarbeitete die Informationen in vielen verschiedenen Abteilungen meines Inneren. Ab einem bestimmten Maß von Tod und Sterben komme ich mit den Gefühlen nicht mehr mit, da schließt sich die mentale Panzerung.
Die Geschäftsfrau nahm Abschied von großen Projekten, der Medien-Markt wackelte ohnehin schon, jetzt würde er rasant zusammenbrechen. Die Agentin lachte fassungslos ob des Umstands, dass gerade eine gut vorbereitete Pressekampagne anlässlich einer wichtigen Preisverleihung an den thematisch umgestellten Feuilletons abprallen würde. Die Mutter schrieb unsichtbare Überlebenschecklisten. Das Ostblockmädchen wußte ohnehin, was jetzt kam. Mobilmachung, Krieg, Atombomben und suchte nach dem nächsten Bunker.
Der Rest von mir hörte auf, mit dem Firmenpartner zu streiten und sah sich im Fernsehen Hollywoodschmonzetten aus den 50ern und Heimatflime an.

Den nächsten Actionfilm ertrug ich erst wieder 2005, das war die wodkagetränkte Aufführung von „Wächter der Nacht“ bei der Berlinale.
Ich hatte eine lange religiöse Phase, betete viel, begann ein Katechumenat, verstand die Rituale nicht, weil ich doch nur Trost suchte und sah dann doch davon ab, mich taufen zu lassen.
Dass die Welt dreizehn Jahre später an der Schwelle zur Totalüberwachung steht, dass Szenen aus 1984 wahr werden, das hätte ich mir nicht träumen lassen.

PS. Und daß ihre Totalüberwachung bei jedem schwerwiegenden Ereignis versagt, wo man diese Unmengen Daten zu etwas brauchen könnte, kann man diesen erbärmlichen Datenmesssies nicht einmal vorwerfen. Weil sie die Schraube dann womöglich noch weiter anziehen würden.

Ein Gedanke zu „Dieser Tag

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