Der Artikel im Tagesspiegel, in dem sich die Journalistin Cigdem Toprak fragt Wo ist die coole „muslimische“ Jugend hin?, hat mich sehr berührt.
Ich habe das, was sie beschreibt, die Generation junger muslimischer Leute, die irgendwie (oft trotz Bildung, Karriere und Erfolg) mental und sozial zwischen allen Stühle landeten, in einem Fall selbst mit angesehen. Oder besser, ich habe es nicht richtig gesehen.
Das, was für diese jungen Leute als frei sein galt, war für uns normal.* – Freizügige Kleidung, lieben und heiraten, wen man will oder auch nur zusammenleben, Sex vor der Ehe, auf Kinder verzichten, eigene Entscheidungen fällen, nicht religiös sein oder oder… So normal, dass einem kein Gedanke kommt, es könnte anders sein und eventuell Konsequenzen haben.
Ich habe einige Jahre mit einer jungen Frau, für die Jenny from the Block sicher auch ein Vorbild war, gearbeitet. Sie war oft von der Politik umworben, schien sie doch das Klischeebild der jungen, klugen, erfolgreichen und modernen Migrantin zu sein. Eigener Kopf, eigene Karriere, eigenes Geld. Solche Instrumentalisierung wies sie immer freundlich und bestimmt zurück, sie wolle sich politisch nicht äußern.
Sie war sehr gut angepasst und deshalb merkte ich die Risse zwischen ihrem Sein und ihren Wurzeln nur manchmal und nahm sie auch gar nicht so ernst.
Ihr Freund, der mich ansprach, ob ich denn nicht intervenieren könnte, sie sei bei der Arbeit so schamlos gekleidet, damit hätte seine Familie ein Problem. Ein Bekannter von mir, ein junger Kurde, für den sie eine Schlampe war, die nicht merkte, wie man ihren Körper obszön präsentierte (ich fand es sexy, mehr nicht). Ihre Ablehnung einer großen Herausforderung, weil sie sich dann nicht mehr in ihrer Community sehen lassen konnte und ihren Eltern Schande gemacht hätte. Der Vater, der immer weiter wegrückte. Die Künstler in Istanbul, für die ihr Türkisch zu ungebildet war. Die Männer, die fasziniert waren, die Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit gern mitnahmen, aber selbst wenig investieren wollten.
Wir haben selten darüber geredet. Ich habe nicht gewagt zu fragen und das Thema lag auch nie so richtig offen. Es war auch nie – außer in Schauder- und Katastrophengeschichten wie Ehrenmord und Zwangsheirat – Teil eines gesellschaftlichen Diskurses. Man erzählte sich von den Heimlichkeiten der Mädchen und den Schwierigkeiten der Jungen, aber es waren ja die Anderen, die fremde Welt, die Dinge, in die man sich als Deutsche nicht einzumischen hatte.
*Es sei denn, man kommt aus einem abgelegenen Dorf und/oder aus einer fundamental-religiösen Familie. Das gibt es in Deutschland nur nicht mehr so oft.