Erst kommt das Fressen, dann die Moral oder wie unsere Existenz unsere Wertmaßstäbe determiniert.
Es war einmal, vor ungefähr 30 Jahren. Die Familie meines damaligen Mannes bekam Westbesuch (meine Familie hatte und durfte so etwas ja nicht). Der Westbesuch war ein Hamburger Richterehepaar mit drei antiautoritär erzogenen Kindern, deren Kleinstes mit vier Jahren noch mit Windeln ins Bett ging. Man war alternativ und ökologisch korrekt, hatte Anteil an einer Biomilch-Einkaufsgemeinschaft und bezog den Vorläufer der heutigen Biokiste.
Das alles erfuhr ich aber erst am Kaffeetisch in der Plattenbauwohnung der Schwiegereltern, die den gleichen Grundriss hatte, wie die meiner Eltern. Schwiegermutter hatte Omas Sammeltassen auf den Tisch gestellt, extra viel starken Kaffee gekocht und eine Erdbeertorte in die Mitte gestellt.
Eine Erdbeertorte hatte man entweder, wenn es kurz dem Zeitpunkt der Verabredung zufällig im Gemüseladen Erdbeeren gegeben hatte (das Selberpflücken auf dem Feld kam im Oderkaff, das seit den späten 70ern von Erdbeerfeldern umgeben war, erst später) oder man kannte jemanden mit Beziehungen zu Erdbeeren. Den in Plastik verpackten haltbaren Tortenboden, wie man ihn aus dem heutigen Supermarkt kennt, gab es nicht. Den musste man entweder selber backen, was die Generation der werktätigen Mütter in der Regel nicht gelernt hatte (mal ganz zu schweigen davon, dass sie keine Zeit hatten) oder frisch beim Bäcker kaufen, was wiederum A. den Zufall der Tortenbodenlieferung in der Erdbeersaison und einen Platz ganz vorn in der Schlange, bevor alles ausverkauft war oder B. gute Beziehungen zu einem Bäcker oder einer Backwarenfachverkäuferin, was eine Vorbestellung ermöglichte, voraussetzte.
Schwiegermutter hatte Wochen vorher eine Kollegin angesprochen, die mit einem Bäcker um fünf Ecken verwandt war. Auf Grund des großen Ausnahmezustandes Westbesuch wurde ihr Ansinnen erhört und sie kam in Besitz dieser Erdbeertorte, natürlich mit Hilfe eines saftigen Trinkgelds.
Der Westbesuch erzählte viel, wenn nicht grade die drei rothaarigen Mädchen rundliefen. Dass sie ihr Haus mit Sperrmüllmöbeln eingerichtet hatten. (Das kannten wir, die jungen Leute machten das auch, weil die Möbel im Laden hässlich und teuer waren.) Daß man vor den Kindern viel in der Welt herumgereist sei, es wäre wichtig, fremde Kulturen kennenzulernen. (Das war Utopie für uns.) Dass man abwechselnd aus dem Hamburger Umland unpasteurisierte Milch von speziellen Bauern holte. (Wir schüttelten uns, Milchhygiene war ein A und O, es gab immer noch Tubekulosefälle.) Man könne sich die Arbeit einteilen und terminieren, wie man wolle und man verdiene mehr als brauche. (Dass diese Arbeitsorganisation ein Richterprivileg war, wussten wir nicht.)
Es gab schlecht verhohlenen Abscheu vor dem Mocca Fix Kaffee (das Kilo kostete 70 Mark, meine Schwiegermutter verdiente ca. 500 Mark). Man solle überhaupt nicht so viel Kaffee trinken, das sei ungesund. Schwiegermutter schwieg, lächelte und bot noch ein Stück Erdbeertorte an.
Nein danke, ein Stück reiche, war die Antwort. Man solle nicht so viel essen. Man könne gutes Essen überhaupt nicht genießen, wenn man sich immer Nachschlag nähme. Außerdem gäbe es so viel Hunger in der Welt. Da müsse man nicht so viel in sich hineinstopfen. Ungesund sei es außerdem. Sie könnten nicht verstehen, warum wir hier so viel Essen auf den Tisch stellen würden, wer brauche denn eine ganze Erdbeertorte? Es gäbe auch andere Dinge, die einen glücklich machen.
Ich hatte es dann bald ziemlich eilig und irgendwie hatte ich danach überhaupt keine Lust mehr, noch mehr solche Deppen kennenzulernen.
Wir mögen die gleiche Sprache sprechen, aber unsere sozialen Erfahrungen, Prägungen und Werte sind andere.
Liebe Kitty,
der Westbesuch war unglablich ungehobelt und unhöflich. Das hat mit unterscheidlichen Werten und Wertvorstellungen überhaupt nichts zu tun. Die Schwiegermutter hätte ihn rauswerfen sollen. Es sind nicht alle so, Gott sei Dank.
Viele Grüße
Petra (Wessi)
Ich glaube, die wollten uns die Welt erklären. Leider Gottes ihre Welt, die mit unserer nichts zu tun hatte.
Kenn ich. Ich bin seit Teenie-Tagen in unterschiedlichsten Szene-Gruppierungen unterwegs und weiß seit meinen frühen 20ern, daß die selbsternannte vermeintliche Vorhut der Avantgarde z.T. deutlich egoistischer/bornierter/spießiger ist als das von ihr verachtete Establishment, das seinerseits bisweilen erstaunlich souverän agiert(e). Allerdings war früher der Druck, sich von der Elterngeneration abzusetzen und den 68ern nachzueifern, auch noch größer als heute. Kinderstube, sofern vorhanden, wurde da gerne ignoriert. Etwas mehr Allgemeinbildung hätte ich aber schon erwartet. Das Pendel schlug schon immer nach beiden Seiten aus. Für die damalige isolierte Position in der DDR war das sicherlich eine irritierende Erfahrung. Vielleicht aber auch hilfreich nach 1990, die Verhältnisse einzuschätzen.
Aber mal was anderes. Was wäre eine adäquate Reaktion auf die gewährte Gastfreundschaft gewesen, ohne die Gastgeber zu brüskieren?
Ich kann die Verhältnisse halbwegs nachvollziehen. Zu meinen nachhaltigen Kindheitserinnerungen gehören Eltern, die regelmäßig Sonderangebote studierten und Care-Pakete im halben Dutzend nicht nur zur Weihnachtszeit ‚in die Zone‘ schickten. Meine aus Niederschlesien vertriebene Mutter hatte alle ihre Freundinnen in der DDR von der Ostsee bis nach Leipzig und Dresden.
Meine einzige aktive Erfahrung war die letzte Jugendweihe vor der Wiedervereinigung in einem kleinen Dorf bei Wismar. Alle Beteiligten hatten Angehörige in der LPG und/oder Jagdlizenzen. Die üppige Party-Verpflegung schien so tendenziell unproblematisch (wurde mir auch so gesagt) und für mich so was wie eine Zeitreise zu meiner Konfirmation knapp 30 Jahre vorher. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das damals realistisch eingeschätzt habe.
Nein, es gab immer etwas zu essen im Laden. Zur Not Schweineschwänze und Hühnerfett – was meist die armen Rentnerinnen kauften.
Sicher wäre eine fette Moccatorte auch kein Problem gewesen. Aber die Schwiegermutter ahnte schon, dass das nicht so der Bringer wäre und wollte etwas Besonderes servieren.
Für mich ist das Ereignis in der Rückschau dieser Culture Clash, der uns heute auch immer noch passiert.Wenn du nicht der Dalai Lama bist, reduzierst oder teilst du erst, wenn dich dein Überfluss langweilt.
Viele der heutigen politischen Diskussionen passieren aus der Perspektive des Westens, der mehr als 50 Jahre Wirtschaftswachstum hinter sich hat, wo es einuges an Vermögen und Sicherheiten gibt.
Gerne gelesen. Leider gelingt es mir immer weniger, meinen Haß gegen diesen von Ihnen charakterisierten Typ von Menschen zu bezähmen.
Mir gehen die auch unglaublich auf die Nerven und derzeit werden es mehr in meiner Umgebung.
Liebe Jana, solches „Gequatsche“ hat auch meine Westmutter, die Backen und Erdbeeren kaufen konnte, nicht ertragen. Das ist keine Frage des Herkunftssystems sondern der elementarsten Emphatie. „Über“priviligierte verlieren gern mal die Bodenhaftung. Ich plädiere auch für Rausschmiss (und Erdbeertorte selbst essen).
Frohe Ostern und alles Liebe
Friederike.
Dir auch frohe Ostern!
Ich habe ja, nach dem Aufschreiben und noch mal drüber nachdenken noch eine andere Erklärung. Kognitive Dissonanz. Das waren utopistische Linke. Die haben erwartet, dass wir anders sind. Nicht genauso spießig und verfressen wie ihre Eltern. Und wir waren unzufrieden und verbalisierten das auch. Das bekamen die nicht auf die Reihe. Wir lebte doch schon in der Zukunftgesellschaft. Zwar keine, in der sie leben wollten, aber eben die neue Ordnung.
gru. se. lig.
Yep.
Oh ja, da kam die Westverwandtschaft mit den bunten Dingen von den Brüdern Albrecht(Discount). Gut, ich konnte als Ostberliner schon immer die Abendschau sehen, aber die Thüringer und Sachsen freuten sich über ein buntes Testbild im Westfernsehen. Wenn Frau/Mann die 50 hinter sich gelassen hat, entwickelt sich sowas wie Altersweisheit…
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