Wenn es den kleinen Äffchen im Schloss Wernersdorf dann doch ein bisschen langweilig wird oder die Konditionierung aufwacht und immer hörbarer schreit: „Ihr könnt hier nicht nur rumsitzen! Geht wandern!“, ja dann ist es Zeit für den Ranger-Hut, die Wanderstiefel und die restliche Funktionskleidung. Ich wollte wandern und der Graf wollte vorgestern noch einmal auf die Schneekoppe. Ich bin ja nicht so der Typ für die Stellen, wo alle hingehen. Aber es ging ihm um den höchsten Gipfel. Diesmal gingen wir es von der östlichen Riesengebirgskante, vom tschechischen Ober-Klein Aupa oder Hory Mala Upa an. Der Graf hatte einen Wanderbericht gefunden, nach dem ein älterer Herr die Strecke in weniger als zwei Stunden geschafft hatte. Wir fuhren eine halbe Runde ums Gebirge und dann die Berge hoch auf den Pass. Die Tour begann und ich fühlte mich von Anfang an nicht so fit. Niedriger Blutdruck, Dröhnen in den Ohren, noch nicht warm mit den Bergen aber ich bemühte mich um Haltung. Was ein 74jähriger Ex-Leistungssportler schafft, schafft Moppel Kitty schon lange. Es begann mit einer lockeren Aufwärmsteigung, 240 Höhenmeter auf einen reichlichen Kilometer. Ich verwandelte mich binnen Sekunden in eine schnaufende Dampflok, das ist bei Steigungen mein normaler Betriebsmodus, so weit also alles normal. Der Graf trabte leichtfüßig vor – Marathonläufer halt – und wartete an den Wegbiegungen gern auf mich. Immer wenn wir uns kurz begegneten, bemühte ich mich um ein engagiertes Lächeln. Ganz hoch wollte ich eigentlich nicht, aber als mir einfiel, dass dort oben ein Postamt ist, wollte ich dem Kind doch unbedingt eine Karte mit Schneekoppenpoststempel schreiben, dann mussten wir flott machen, das Postamt schloss um 16 Uhr. An der steinernen Stuhl Steinernen Tafel schauten wir kurz ins Tal nach Polen. Es war zwar temperaturmäßig nicht übermäßig heiß, aber die Sonne knallte mir böse auf den Kopf. Bei der nächsten – moderaten – Steigung, kurz vor der Hütte erwischte es mich dann. Die übliche Panikattacke nach selbstgemachtem Leistungs- und Zeitdruck. Den Rest des Weges zur Jelenka-Baude legte ich heulend und hyperventilierend zurück. Gott sei Dank mit Sonnenrille, so dass es keiner sah.
Andere müssen nach Nepal fliegen, um im Annapurna-Gebirge zu kollabieren oder kraxeln die Eiger-Nordwand hoch, um sich von der Bergwacht abpflücken zu lassen. Miz Kitty ist da wesentlich sparsamer im Unterhalt. Ihr reicht das Riesengebirge, viel Sonne, der Gedanke, die Wasserflasche vergessen zu haben und niedriger Blutdruck.
Langer Rede kurzer Sinn: An der Jelenka-Baude war dann Schluss für mich und wir winkten dem einen Berg entfernten Schneekoppengipfel nur noch zu, denn die nächsten 400 Höhenmeter waren für mich illusorisch. Der Graf bemühte sich darum, mich schonend den Berg runter zum Auto zu bugsieren.
Böhmische und schlesische Dörfer
Unten im Tal war ich dann wieder so weit genesen, daß ich den Unterschied zwischen tschechischen und polnischen Riesengebirgsdörfern konstatieren konnte: In Tschechien ist alles wie geleckt, frisch gestrichen und mit Zierstreifen versehen, samt kameraüberwachten Parkplätzen und elektrischen Schranken und an jedem zweiten Haus steht „zu verkaufen“. In Polen ranzt alles friedlich vor sich hin. Man frage sich, wer von den Völkern mehr Spaß hat am Leben.
Horny Mala Upa ist übrigens ein Ort, an dem Geschichte Kondensationspunkte hatte. Die preußische Zollstation wurde 1866 durch Desertion des Zöllners verlassen (man erinnere sich, es war hier mal die Preußisch-Östereichische Grenze), die Wehrmacht brannte das Grenzhaus ab und mit ihm den tschechischen Zöllner, worauf ein paar Tage später vor der Ruine sieben deutsche Bewohner des Ortes standrechtlich erschossen wurden. Das ist noch nicht so lange her. Nun kommt der Europakapitalismus mit Niedrigpreis-Supermärkten, vollgepackt mit Nestlé- und Unilever-Produkten und Vorschriften.
Wir fuhren zurück, hielten aber noch einmal kurz in Arnsdorf (Milko), wo uns eine Kirchenruine aufgefallen war. Polen? Kirchenruinen? Absurd. Die Schautafel klärte auf. In der Zeit der preussischen Herrschaft hatte es protestantische Herrscher und evangelische Kirchen gegeben. 1945 wurde sie zerstört, in den 80ern stürzte das Dach ein und nun wachsen Bäume darin. Der Graf berichtet mit Fotos.
An diesem Abend war ich nicht lange wach, ich aß nur eine Suppe, trank zur Seelchenreparatur einen Stonsdorfer und ging früh zu Bett. Der Himmel erfreute uns mit Fast-Vollmond und über die Gipfel jagenden Caspar-David-Friedrich-Wolken. Den nächsten Tag verbrachte ich zur Rekonvaleszenz mit Nichtstun. Am Abend war ein Konzert im Schloss angesagt und ansonsten schlummerte ich, las etwas. badete und schwamm meine übliche Morgenrunde.
Konzert in Schloß Wernersdorf
Die Herren von Schloss Wernersdorf (Palac Pakoszow), die Familie, die es seit Jahrhunderten besaß, 1945 durch die europäische Teilung verlor und vor einigen Jahren wieder erwarb, veranstalten regelmäßig Konzerte im Barocksaal des Hauses. Seit vier Tagen gibt es wieder einen Flügel an der Stelle, an der er auch auf alten Fotos stand und deshalb wurde dieser im aktuellen Konzert eingeweiht.
Zwei junge polnische Solisten spielten Brahms, Paganini, Saint-Saens und Franck, musikalisch von extrem hoher Qualität und atmosphärisch sehr schön, denn der Saal mit dem riesigen Deckengemälde und dem Gebirgsblick war mit Kerzen beleuchtet.
Es waren sehr viele Besucher gekommen. Viele verbanden das Konzert mit einer Übernachtung, andere kamen von Hirschberg (Jelenia Gora) und es gab einen Trupp uralter, kleiner, runder Herrschaften im Sonntagsstaat, die sicher die örtlichen pensionierten Lehrerinnen, Amtsvorsteher und Ingenieure waren.
Und – auch wenn Sie genervt die Augen verdrehen – wissen Sie, wie wunderbar das ist? Aus dem Bett in die Badewanne gleiten, sich ein Kleid überwerfen, etwas Puder auf die Nase und Parfüm hinters Ohr, eine Treppe tiefer gehen und dort ist ein Konzert.
Das nächste ist übrigens im August.
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