Entwürfe zeichnen

Je mehr ich nähe und Nähblogs verfolge, desto mehr schule ich meinen Blick für Kleidung an Frauen, die nicht ihr Geld mit der Präsentation ihres idealen Körpers verdienen. Das freut mich, macht ich aber auch kritischer mir selbst gegenüber, denn mir fallen Paßformprobleme und unvorteilhafte Schnitte und Linienführungen nun viel schneller auf. Unvorteilhaft gar nicht mal, weil Makel nicht kaschiert werden, sondern weil Proportionen nicht stimmen. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die aus einer alltäglich und leicht langweilig aussehenden Person plötzlich einen Hinkucker machen.
5 cm Saumlänge entscheiden oft über schöne oder sonderbare Beine, der Sitz der Taillenlinie macht den Unterschied zwischen schnittigem Schlachtschiff oder Boje und minimale Details am Dekollete sind entweder *hach* oder *ups*.
Mein heißgeliebter Look, bestehend aus engem Jeans + weißem Shirt wurde schon bei den 60-90-60-Fotos auf Instagram verworfen. Ich sah einfach nur öde, übermüdet und gedrungen aus. Nachdem ich zu nähen begonnen hatte, lief ich auch erstmal prächtig vor die Wand.
Mein erster Rock nach Jahren war ein Tante-Trude-Faltenmonster, das aus mir eine Landfrau machte. Die wunderbare rosa-schwarz karierte Seide war schlichtweg fürn A…
La Primavera gab mir noch ein paar Tipps, das mir den Beinen und der idealen Rocklänge hatte ich auch schon von ihr gelernt, nun definierten wir den Sitz der Taille und die Linie, die sie möglichst machen sollte, zwei Finger breit unterm Rippenbogen. Damit kam ich schon mal weit, aber mir fehlte immer noch die Vorstellungskraft, ob ein Schnitt funktioniert oder nicht.
Die Lösung sind diese Figurinen: (Die Fotos lassen sich mit Mausklick vergrößern.)
Figurine vorn Figurine seite Figurine hinten
Die Umrissbilder lassen sich prima bemalen:
Victorianisches Kleid vorn Victorianisches Kleid seite Victorianisches Kleid hinten
Hier habe ich an ein Oberteil aus einem Burda-Schnitt, das eng weiterging, einen Rock in A-Linie angebaut. Das Kleid ist nun, nach 1000 Änderungen auch fertig, am neu entworfenen Rock hat es definitiv nicht gelegen.
Bluse 1 Bluse 2
Das ist der Test, ob eine Bluse mit Schößchen besser aussieht als ein Rock mit Sattel.

Nein, ich bin kein Maltalent. Ich habe mich mit Gummiband um die Taille vor die Wand gestellt und den Grafen gebeten, mich zu fotografieren. In Photoshop habe ich die Bilder mit dem Fotokopie-Filter in Schwarzweiß-Zeichnungen verwandelt. Schlimm. Die Ergebnisse sahen aus, wie von Zille gemalt.
Damit ich mir das nicht ständig ansehen muss, habe ich die Umrißlinien exakt nachgezeichnet und die Zeichnungsebene separat abgespeichert. Dafür habe ich mein iPad, einen Bamboo-Stift und die Adobe Ideas-App verwendet. Auch mein Bamboo-Pad hätte dazu gedient  – oder einfach Transparentpapier, das sich einscannen oder umkopieren und dann bemalen läßt.
Die schnellen Handzeichnungen entstehen auch auf Adobe Ideas, Basisebene ist die Umrißzeichnung.
Der große Vorteil ist, dass ich nun mit einigen netten Ideen gar nicht mehr anfange, weil ich sie vorher auf Herz und Nieren geprüft habe. Tiefsitzende Taille oder enge Sättel am Bauch, Kellerfalten im Rock aus steifem Stoff – muss nicht sein. Nice to have, aber das ist die Arbeit nicht wert. Dafür merke ich gerade, wie ich schon mit der Differenzierung von Ausschnitttiefe und Ärmellänge oder Rockweite  und den Silhouetten spielen kann.
Demnächst würde ich gern noch die abfotografierten Stoffmuster einbauen.

8 Gedanken zu „Entwürfe zeichnen

  1. Puh, heißes Thema. Damit Klamotten auf einem Foto an einer Person „gut” aussehen, ist sehr viel Arbeit von Nöten. Im Business werden nicht nur die Modells gestylt, da wird auch sehr viel an der Kleidung noch am Modell „gepimpt”, gesteckt, gerichtet – damit es nach etwas aussieht.

    Die 60-90-60-Fotos sind immer schwierig, weil sie allermeist perspektivisch schlicht aus Fotografensicht nicht korrekt aufgenommen werden, nämlich von oben nach unten. Sieht man ja auf den Fotos, das Smartphone klebt meistens vor dem Gesicht oder wird in der oberen Körperhälfte gehalten. Aus der Perspektive würde kein Klamottenfotograf arbeiten. Ein unverfälschte Perspektive bis hin natürlich auch zu einer gewollten Streckung, erhält man eher, fotografiert man ab unterer Körpermitte – also eher von unten nach oben bzw. richtig zentral.

    Dann sind diese Fotos immer frontal Aufnahmen, schwierig. Macht man im Studio natürlich nie auf so kurzer Distanz, wie in der Wohnung. Dazu kommt die Ausleuchtung. Und ey, ehrlich: bei Frauen in unserem Alter wurde nebst perfekter Ausleuchtung von jeher Vaseline auf die Optik geschmiert, damit wir weichgezeichneter sind. (Würde ich jetzt aber für die Linse eines Smartphones nicht empfehlen.)

    Du hast z. B. auf Deinen Foto nie eine Taille. Die hast Du aber in natura. (Weiß ich). Ich denke auch, Du nähst sie in die Kleider (Stichwort: Landfrau, wobei Landfrau immer auch sexy ist, wenn es der Stil der Frau ist und sie sich darin wohlfühlt.) Es ist schlicht die Perspektive. Versuche doch einfach mal die Kamera etwas tiefer zu halten demnächst testweise und ein bisschen seitlich. Ich denke persönlich, man kann auch am 60-90-60-Selfie-Fotostyle gut arbeiten.

    Ansonsten finde ich es völlig faszinierend, was Du aus Deiner „Unzufriedenheit” am Werk und später in den Fotos gemacht hast. Irre. Schön irre! ;-)

    • Danke, das ist sehr interessant! Die Fotografensicht hatte ich gar nicht mitgedacht.
      Ich mäkele auch am Sitz der Sachen rum. Mit der Figur, die ich mir die letzten vier Jahre gegönnt habe, rutscht alles vorn nach oben und man muß es per Konstruktion fixieren. Hauteng geht nicht, weil sieht aus wie Preßwurst und enge Passagen an die richtige Stelle zu bringen, das lerne ich grade.

  2. wow. danke. nehme mir das selber schönnähen seit jahren vor, habe aber bloss die nähmaschine dazu, die ahnung fehlt noch – das ist so schön praktisch gedacht allet. ich liebe auch jeans und t-shirt bzw hemd, werde damit aber sofort unsichtbar leider.

  3. Kaum jemand spricht darüber, aber es ist offensichtlich, dass nicht wenige Frauen einen Teil ihrer Garderobe in Geschäften für große Größen einkaufen, weil ihre Proportionen nicht zu den Standardschnitten passen. Breitere Schultern, große Oberweite, breite Hüften, umfangreichere Oberschenkel: Ein einziges dieser Attribute genügt.

    Abgesehen davon finde ich Ihre offensive Art, mit der Problematik umzugehen, fantastisch.

    • Danke! Ich habe die Bilder schon wochenlang hin- und hergeschoben und traute mich nicht. Bei den richtigen Übergrößen habe ich das Problem, daß ich auch nicht reinpasse. Bei Anna Scholz ist meist zu viel Luft im Dekolletee, in anderen versack ich ganz. Ich kriege das schon noch hin, und wenn ich es habe, schreibe ich es auf.

    • Das mittlere Lebensalter hält ja (nur ?) für Frauen eine originelle Überraschung bereit: Auch, wenn das Gewicht weniger wird oder zumindest gleich bleibt, verändern sich die Proportionen. Tolle Sache, das. Oder auch nicht.

  4. Finde ich ja klasse, dass du das so gemacht hast. Ich bin an Photoshop gescheitert und hatte es mit einfachem Handzeichen versucht wie hier:
    http://jezzeblog.blogspot.de/2013/06/this-is-me.html
    Noch habe ich es nicht weiter benutzt, aber du beschreibst sehr gut, wie viel kleine Details ausmachen können. Es wäre doch toll, wenn man all diese kleinen Geheimnisse für sich entschlüsselt hätte.

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