Zweifel und Distanz

Manchmal bemerke ich meine Distanziertheit zu dem, was anderen Menschen über alles wichtig ist (nennen wir es Zeitgeist), überhaupt nicht. Dann lese oder sehe ich Jahre später etwas und denke: Hm, auch wenn du gleich nebenan warst, du warst im Paralleluniversum, du hast anderes getan, dir war anderes wichtig. Die Zeitgeist-Strömungs-Formationstänze meiner Mitmenschen hatte ich durchaus bemerkt, aber eher mit Schulterzucken und dem Gedanken: Komisch, das so was so wichtig ist, dass alle im Chor singen wollen. (Und es ist egal, worum es inhaltlich geht, ob Business-Dynamiker, politisch Korrekte, Religiöse, Verweigerer oder Kleingärtner. Es geht um das Abgeben des Hirns an die Masse.) Manchmal ist mir der Gleichschritt-Marsch, das Nachplappern von Buzzwords unangenehm nah, zu nah, als daß ich Distanz wahren könnte.
Trotzdem gäbe ich viel darum, wenn ich mich so in eine Gruppe fallen lassen könnte. Das gibt Schutz, Stärke, Identität und immer ein Thema. Die eigene Lust und Schuld? Die eigenen Ziele und Lebensbaustellen? Egal, es geht ums große Ganze. Nicht mehr denken müssen (oder Denken nur im Konsens simulieren), nachsprechen, was die Meinungsführerschaft gerade schrie, die anderen Mitläufer noch übertreffen an Konsequenz und Bemerken von Makeln und Fehlern des unerleuchteten Teils der Gesellschaft. Das spart eine Menge Zweifel und Irrtümer. Vielleicht im nächsten Leben, wenn ich denn als Sardine oder Amsel wieder geboren werde.
Denn es geht nicht, mir tut so ein Verhalten fast körperlich weh. Wenn ich zur Zeit manchmal auf Twitter oder in Blogs lese, was Leute von sich geben, die ich einmal wegen ihrer differenzierten Weltsicht und Wachheit schätzen gelernt hatte, winde ich mich vor Fremdscham. Ich denke: Merken die das nicht? Jungpioniere beim Fahnenappell waren unangepasster. Sie sind das geworden, was sie haßten.
Wo war der Moment, wo sie sich in Meinungs-Blockwarte verwandelten? Was hat sie motiviert? Die Sehnsucht, endlich nicht mehr schwach und angreifbar zu sein? Endlich nicht mehr allein stehen und angezweifelt werden? Das Schlimme ist, dass sie mit den gleichen Mitteln agieren, wie die, von denen sie sich abheben wollen: Intoleranz, einspuriges Denken*, aggressive Dominanz, Parolen statt Diskurse. Stammtisch, nur ohne Bier und Kippen. Vielleicht ist das dieses Ankommen. Endlich mal recht haben. Ich weiß es nicht. Es ist arm, sehr arm.

Ich suche wieder. Distanzierte Zweifler (oder analytische Denker oder arrogante Ärsche, je nach Blickwinkel) erkennen einander über die Menge hinweg.

Edit: Auch wenn das ein Text zum spiegeln ist. Ausgelöst wurde er dadurch, daß ich heute Nacht zu viele Texte über die New Economy gelesen habe. MIr fiel auf, dass ich damals genauso daneben stand und dachte: Merken die das nicht oder was bringt das denen gerade?

*Einfach mal genau hinschauen: Derailing – also einen Argumentationsstrang aus der Schiene heben – passiert nur, wenn Argumente einspurig und unveränderbar laufen. Einspurige Argumente sind tröstlich, aber gefährlich.

10 Gedanken zu „Zweifel und Distanz

    • Ich finde es interessant, dass es einen ziemlich klaren Ost-West-Spalt dabei gibt. Als könnten sie die Denkfreiheit nicht mehr ertragen. Ja, es gibt Wellenbewegungen. Auf Entgrenzung folgt Begrenzung. Ich bin leider in der anderen Strömung. Ich könnte mir nicht vorstellen, in der öffentlichen Kommunikation wieder in diese miefige mentale Enge zurückzugehen und meine viel differenzierteren Gedanken nur mit wenigen Auserwählten im sicheren Areal zu teilen.
      Das ist alles eine Frage der Erfahrungen und der Prägung.

  1. es ist vielleicht eine folge der kommentierfunktions-enthemmung. dieser spirit des keifens und auskotzens bleibt nicht mehr in den kommentaren, sondern wird jetzt zur hauptsächlichen stimme. (ich fand schon die kommentier-enthemmung kulturell beschämend. dass diese bei einigen zum hauptorgan auswächst – tragisch, aber auch bezeichnend. man krallt sich alt an irgendeiner bedeutsamkeit fest, um überhaupt eine art armes würstchen zu sein und merkt nicht, dass man doch nur wurschtmasse mit darm drum ist. springen auf einen karren, der im schritttempo fährt ist kein sportiver akt.)

    • Das ist gut beobachtet. Twitter ist nur Kommentar und so wird ausschließlich kommentiert und selten eine These von A nach B durchdacht.
      Ich merke das auch an mir. Meine Blogposts sind oft Reaktionen auf die aktuelle Sau, die durchs Twitterdorf getrieben wird.
      Slow writing tut not, regionale Themen aus ökologischem Anbau verwendend.

  2. „Regionale Themen aus ökologischem Anbau“. Was nähen Sie. Ich lerne kochen.

  3. Ich kann es schon gut verstehen, die Infrastruktur (fertiges Set an Meinungen/Werten, Stärke, Schutz) zu nutzen, denn es ist auch sehr effizient. Wenn die Übereinstimmung im oberen Bereich liegt, muss ja nicht jeder das Rad neu erfinden. Ein bisschen langweilig ist es vielleicht, aber ich glaube diese Gruppen sind weniger homogen und auch weniger zeitbeständig als man meint.
    Wenn es junge Leute sind hat die Gruppe vielleicht eine ähnliche Funktion wie die Herkunftsfamilie, aus der man ja dann meistens irgendwann herauswächst. Wenn es Personen sind, die Sie vormals für ihre Wachheit etc. geschätzt haben, so sind die vielleicht gerade vom Einzelkämpfertum etwas müde geworden. Es kann viele Gründe geben. Sich profilieren ist sehr anstrengend und lohnt auch nicht in jeder Angelegenheit.

    Das Individuum in der Gruppe zu sein ist vielleicht der Trick, aber natürlich auch ein Spannungsverhältnis. Ich nehme das häufig stark wahr. Wobei ich mich dabei ausschließlich auf den ersten Teil des Postings beziehe – die Gruppendynamik an sich – und nicht auf Wortdurchfall im Internet. (Das war hoffentlich klar.)

    • Danke! Endlich sortiert es mir mal jemand, statt gleich beleidigt zu sein.
      Auch wenn ich sehr zum Einzelkämpfen neige, was nicht immer gut für mich gewesen ist, sich Verbündete zu suchen, um etwas zu erreichen ist gut, mache ich ja auch. Was mich eher erschüttert, dass dann so Parolentourette bis hin zu Gepöbel rauskommt und die Welt nur noch nach $anzuprangerndem Phänomen betrachtet wird, ohne zu reflektieren, warum das so ist und wie es wirklich wirksam zu ändern ist. ES wird mir zu viel geredet statt gehandelt.
      UNd Parolen… Ich habe mit 16 mit 1500 anderen unter der Leitung des Prorektors der Berliner Schauspielschule gelernt, wie das Wort Partei in einem Sprechchor zu betonen ist. Bei jeglichem emotional-verkürzendem politischen Schlagwort kommt mir gepflegt das Kotzen.
      Einzige Ausnahme: Wir sind das Volk! weil das tatsächlich an einem Moment in der Geschichte passiert, wo sich die ganz großen Räder drehten. Das war Welttheater. Da gehen Leute auf die Straße und zeigen Politikern und Ordnungskräften einfach per Masse, wer hier wirklich das Sagen hat. Das war groß.

  4. Vielleicht erschlafft ja mit der Haut auch das Denken. Bequemlichkeit, das eigene Weltbild hat sich gefügt, Neugier wird zusehends unangenehm und Neues störend, die eigene Position ständig in Fage zu stellen strengt an und kann bedrohlich sein. Ost-West-Spalt? Ich habe eher den Eindruck, dass es für Convenience-Denken gar keine Grenzen gibt.

    BTW: Wenn ich dann mal kurz das Denkmuster dieses Textes übernehmen dürfte …

  5. ich schleiche schon einige stunden um diesen text und die kommentare herum und am ende jeder überlegung bleibt nur das nicken und ein klares ja, genau so. und manches zerquatscht man dann auch einfach nicht und lässt es so stehen!

    (aber welches glück, wenn man manchmal einen text liest, der exakt ausdrückt, was man fühlt!)

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