Was Leib und Seele zusammenhält II

Irgendwann, ein zwei Jahre nach der Ankunft in der Kernfamilie, dreht sich mein Essverhalten um. Zunächst wurde ich noch heftig gelobt dafür, daß ich ab und zu mal den Teller leeraß und manchmal sogar Nachschlag wollte.
Der Durchbruch kam, als ich von Freunden lernte, daß man sich allein Essen machen kann: Eier braten, Brote schmieren, Wurst schneiden. Ich ging oft mit zu Lars nach Hause. Lars‘ Mutter war geschieden und hatte keinen Mann mehr, sondern nur Tante Hiltrud, eine Internistin, die irgendwo im Spreewald in einem Landkrankenhaus arbeitete und deshalb nur jedes zweite Wochenende die Familie komplettierte. Da seine Mutter im Schichtdienst als Hebamme im Kreissaal stand, hatte Lars sehr früh gelernt, sich selbst zu versorgen. Ich lernte von ihm solche tollen Gerichte, wie „Pfannenmansch“. Ganz einfach Salamiwürfel anbraten, vielleicht auch eine Zwiebel, dann Eier drauf schlagen und vielleicht noch ein paar Käsewürfel schmelzen lassen. Oder so simple Sachen, wie das Bedienen der Brotmaschine. Plötzlich konnte ich Schmalz- und Pflaumenmusbrote allein machen und sparte mir die anstrengenden familiären Eßrituale.
So saß ich ganze Nachmittage vor einem Teller mit geschmierten Broten und las. Sehr zum Missfallen meiner Mutter, denn die Bücher hatten jede Menge Fettflecken und manchmal waren am Abend Brot, Butter und Wurst fast alle. Dafür schmeckte es mir nun und ich konnte Essen genießen.
Ich legte nach und nach zu, auch weil mir die Bewegung fehlte, ich ging nicht gern nach draußen in das Neubaugebiet und Sport haßte ich wie die Pest. Im Gegenzug wurde mein Bruder immer dünner und heikler mit dem Essen. Er bekam damit jede Menge Aufmerksamkeit und ich zog mich mehr und mehr zurück in eine Welt, in der ich mir den Mund stopfen konnte und die mit Phantasien von Cremetorten und Schinkenbrötchen gepolstert war. Das Unvermögen, beim Essen etwas zu empfinden, hatte sich verlagert. Ich konnte nun etwas schmecken, fühlte aber nicht, ob ich satt war oder nicht.

Mittlerweile lobte mich niemand mehr dafür, wie viel ich aß, sondern mir wurde die Wurst aufs Brot gezählt und die Menge der Butter bemäkelt. Mir war das egal, denn ich bunkerte nun das Essen unterm Bett, las Kochbücher und begann selbst zu kochen.
Auch mein Körper war wieder Thema. Diesmal war ich nicht zu wenig, sondern zu viel. „Mädel, iss nicht so viel!“ war nun mein zweiter Vorname, gefolgt von „So, wie du aussiehst, bekommst du nie einen Mann, dabei warst du doch so ein niedliches kleines Mädchen.“ Der unrühmliche Höhepunkt meiner Existenz als Wal war das 14. Lebensjahr. Danach ging es nicht mehr um den Rückzug nach innen, in ein speckgepolstertes Schneckenhaus, sondern ich begann ein ziemlich unkontrolliertes und spannendes Gymnasiastinnenleben. Mit meinem Gewicht pendelte es sich irgendwann ein und für Essen hatten wir ohnehin kaum Geld.
Später, in Beruf und Studium hatte ich einige Mondphasen. Mit allen Extremen ein Schwanken von 20 Kilo, meist ging es aber um plusminus 10.

Auch heute kämpfe ich immer wieder gegen seelische Reaktionen, die mit Hunger nichts zu tun haben. Wenn ich den (körperlichen, realen) Kontakt zu mir nahen Menschen verliere oder nicht finde, kann ich nichts essen. Ich kann dann innerhalb einer Woche drei oder vier Kilo abnehmen. Selbst wenn diese Phase endet, dauert es lange, bis mein Körper wieder umschaltet aus der Hyperverbrennung mit gleichzeitigem Ekel vor Nahrung.
Habe ich zu viel Stress, Druck und muss Anpassungsleistungen vollbringen, ist Nahrungsaufnahme der exklusive Moment für mich, den ich mit niemandem teilen muss. Deshalb koche ich auch sehr gern, das entspannt mich. – Was sich leider auf den Rippen niederschlägt.
Ich weiß nicht, wo das Mittelmaß ist. Auf die eine oder andere Sache bin ich kürzlich erst gekommen. Dass es mir gut tut, mit Leuten zusammen zu sein, die selbst gern essen, auch sinnlich und viel und dafür am nächsten Tag kürzer treten. Dass Druck bei mir das Gegenteil erreicht – ich tauche weg und mache ohnehin mein Ding.

Frühstück brauche ich in jedem Fall. Mittagessen ist toll. Abendbrot darf knapp ausfallen. Ich bin halt Deutsche…

  

5 Gedanken zu „Was Leib und Seele zusammenhält II

  1. „Mir war das egal, denn ich bunkerte nun das Essen unterm Bett, las Kochbücher und begann selbst zu kochen.“ Hihi, schön gesagt. Ehrlich gesagt, ich habe größte Probleme mit Menschen, die nicht gerne essen. Bin noch nicht sicher ob es da eine kausale Verbindung gibt, aber die waren meist auch ansonsten recht genußfeindlich und unnötig kompliziert.

  2. REPLY:
    oh nee, mit vegetariern habe ich auch so meine probleme. da ich gern fleisch und gemüse und weniger gern mehliges esse, kommen wir selten zusammen.
    der hit war ein mann, den ich bekochen wollte und der mir nach der einladung und der frage, worauf er appetit hätte, innerhalb von minuten eine detaillierte liste dessen mailte, was er nicht mochte. – und diese liste war lang. schade, daß ich sie nicht aufgehoben habe.

  3. REPLY:
    Am besten ist sind jene, die am Hackeschen Markt oder am Alex faltblattwedelnd auf einen zustürmen und mutmaßen, man sei doch ganz sicher Tierfreund. Ich erwidere dann meist nur „Nein, und gerade jetzt auch kein Menschenfreund“. Das läßt sie dann gerade lange genug verdutzt die Klappe halten, bis ich mich aus dem Staub gemacht habe ;-).

  4. REPLY:
    Geht mir genauso mit Nichtgenießern. Zwar esse ich immer noch keine Unmengen, aber ich esse und koche gerne und mit Leidenschaft.
    Ich muß gestehen (und vermutlich kriege ich dafür eins auf die Mütze), dass ich auch selten mit Vegetariern auskomme, zumindest der Fraktion, die ein angewidertes Gesicht zieht, wenn man in ihrer Anwesenheit trotzdem ißt, worauf man Lust hat.

  5. ich glaub das ist schon genetisch verankert bei mir – nach dem motto „nudeln geben einem dann immer so ein gutes gefühl im magen“ frust einfach wegessen. ich ertappe mich dann nachts um eins am küchentisch bei butterbrot mit salz und kaffee …

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