Unter Wölfen*

Dieser Artikel kam zur rechten Zeit. Wenn ich im letzten Jahr versucht habe, jemandem zu erklären, wo die Stelle war, an der ich falsch abbog und mit Vollgas in Richtung Burnout fuhr, fiel mir als erstes eine Trennung ein. Eine Geschichte, die sich auseinander gelebt hatte, weil er in der Beschränkung auf wenig Mühe und Lebensteilnahme zufrieden war und ich mehr vom Leben wollte und zwar jetzt. Aber das wars nicht. Die Trennung von dem allzu relaxten, in München aufgewachsenen jungen Mann, der Arbeiten für eine Erfindung seiner Eltern hielt, sich auf Sozialhilfeniveau einschränkte, eisern sparte, nur das Nötigste arbeitete und auf sein Erbe wartete, war nur ein Symptom, nicht die Ursache der Angelegenheit.
Als die Mauer fiel, hatte ich noch zwei Jahre Studienzeit bis zum Eintritt ins Arbeitsleben. Mich hat es also nicht überrollt, herumgeworfen und in einer völlig neuen Arbeits- und Lebenswelt abgeliefert, sondern ich hatte zwei Jahre Zeit, mir alles aus geschützter Perspektive anzusehen und ein bisschen rumzuprobieren.
Danach war ein Kitty-typischer Entschluß klar, der lautete – wie immer – „Ich gehöre nicht zu euch.“ Auf der ganzen Linie. Ich gehörte nicht zu denen, die in Schneejeans nach Bananen und Pornos hangelten und nach kurzem „Wahnsinn!“-Rausch in lang gezogene Klagelieder ausbrachen. Zu denen, die „Umsturz“ murmelnd, sich auf die Lippen bissen, gute Miene machten und nun ihrerseits die Faust in der Tasche ballten, gehörte ich schon lange nicht. Denn schließlich hatte ich mit meinen Zweifeln recht gehabt. Zu denen da drüben gehörte ich aber auch nicht, selbst wenn ich sie neugierig beäugte und wissen wollte, wie sie ticken.
Also wie immer die selbstgewählte Lonesome Rider-Tour. Im Hirn-Gepäck frühkindliche Botschaften: „Das Wolfsgesetz des Kapitalismus“ (Was war das eigentlich? Egal! Es klang nach Kampf oder Tod.) „Fressen oder gefressen werden!“ „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ (Schwachsinn, eigentlich Plautus, dann Hobbes, aber es ist eingraviert) „Ausbeutung. Profit. Taylorismus. Funktionieren. Heuern und Feuern. Arme und Reiche.“ Sämtliche Schauermärchen über den Kapitalismus, die die größte DDR der Welt als Hort der Menschlichkeit erscheinen ließen, saßen tief. Ich vergleiche es immer gern mit Menschen, die eine streng katholische Erziehung genossen haben. Die reagieren auch noch Jahrzehnte nach ihrem Kirchenaustritt Worte wie „Seelenheil. Todsünde. Satan.“ In mir war einprogrammiert, dass ich zu den „Siegern der Geschichte“ (noch so ein Schlagwort, merken Sie es?) gehören soll. Immer. Also zog ich los um zu siegen und es meiner Familie zu beweisen: Das war nicht das Ende, das war erst der Anfang.
Es gab viele Dinge, die ich zwar sah und erlebte, aber nur mit dem Kopf, nicht mit dem Instinkt verstand. Dass ich mit Unterhaltsvorschuß und BaföG wohlhabender war als ein Facharbeiter in der DDR. Das man niemanden für einen Fehler einfach so feuern kann und es sich auch in der Probezeit reiflich überlegt, wenn man keinen Ersatz hat. Dass es auch hier Nischen gab und nicht nur das offene Schlachtfeld. Ich sah viele aus der Null-Bock und Verweigerungs-Generation. Ich fand es dekadent und blöd, denn letztlich zahlten ihre Eltern den Kindern die Rechnung und wenn es auf dem Umweg über Steuern war. („Faserland“ war für mich eine Diagnose, keine Literatur.)
Meine Eltern konnten nicht zahlen. Helfen konnten sie. Sie entlasteten mich mit dem Kind, damit ich voran kam. Ihre Chancen waren nicht mehr groß, glaubten sie. Mein Vater, Kernphysiker, trug in den ersten Monaten von Kurzarbeit Null morgens Zeitungen aus. Dabei reichte das Geld zum Leben. Er hatte wahrscheinlich Angst, demnächst zu verhungern. Mein Großvater sah sich in einem Jahr vor Weihnachten mit allen Möbeln auf der Straße, weil ihnen das Haus streitig gemacht wurde. Dabei war ihre Existenz recht komfortabel, wenn auch nicht respektabel, im Bundesvergleich gesehen.
Ich lernte schnell. Da ich es schon in früher Kindheit trainiert hatte, mich nur auf mich selbst verlassen zu können, ging ich keine tieferen beruflichen Bindungen ein, die mich in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht hätten. Der schnelle Gang in die Selbständigkeit war also vorprogrammiert.
Und dann? Der Ex half mit Betriebswirtschaft, davon hatte ich keine Ahnung, ich hatte nur die Energie, Risikofreude und ohnehin nichts zu verlieren. An Profit habe ich nicht gedacht, ich habe höchstens mal meine Umsatzrendite ausgerechnet und die war immer super, kein Wunder, ich war in der Dienstleistungsbranche, die Maschine, das Hauptaggregat der Wertschöpfung war ich. (Übrigens witzig, dass alle, die ich kenne, die das Wort Profit in den Mund nahmen, es englisch aussprachen. Als würden sie ihm damit die negative Bedeutung nehmen.) Ich wollte keine Bittstellerin sein. Weder um Subventionen, wie im Kulturbereich üblich, noch um Stütze, Gehaltserhöhungen oder Jobs. Ich wollte weder auf die westdeutsche („Schweinesystem!“), noch auf die ostdeutsche („die da!“) Art jammern. Es sollte reichen und Spaß machen. Heute; morgen war mir egal. (Und wenn ich morgen Stütze annahm, dann kamen meine Steuern wieder zurück.)
Der Ex rechnete mir vor: Wenn ich jeden Monat Summe X zurücklege, könnte ich am Tag Y eine preiswerte Eigentumswohnung kaufen. Das hatten meine Verwandten auch gedacht: vor 1923 und 1946, dann kam jedes Nal eine Geldentwertung und vor 1990 hatten sie solche Kapital-Akkumulationen folgerichtig gar nicht mehr versucht. Es kommt wie es kommt. Und die Perspektive war ohnehin, dass Geld in der nächsten oder übernächsten Generation abgeschafft würde. Jeder sollte sich in Zukunft so viel nehmen, wie er tatsächlich braucht zum Leben.
Meine Arbeit mit meinem kleinen Laden reichte mehr als aus und machte Spaß. Irgendwann strengte es aber auch an und dann musste mehr Spaß her. Ich war nicht zu Bescheidenheit erzogen, sondern dazu, dass mir die Welt offensteht, in jeder Hinsicht, ich musste nur etwas leisten wollen. Da war keine Bremse drin, eher noch der Turbo des Narzissmus. Die Vorstellung, dass etwas im Leben nicht für mich, sondern für „die da“ gemacht ist und ich nicht ranreiche, gab es kaum in meiner frühkindlichen kommunistischen Erziehung. Das war der kleinbürgerliche Teil meiner Familie, von dem ich mich abgrenzen wollte, die immer betonten, es gäbe so viele andere, denen es viel besser ginge und da könne man nichts machen. Doch. Konnte man. Konnte ich. Ziel definieren und schauen, dort hinzukommen. Ab und zu das Ziel anpassen.
Als die Kraft nachließ, wurde es schwierig. Ich hatte schon in den Jahren vorher, als ich merkte, der Spaß wird weniger, immer wieder gesagt, blöd wäre das, ich könnte nichts anderes als diesen Job in den ich reingefallen war und mit dem ich Erfolg hatte. Und nun? Abhängigkeit? Hoffen, dass mich die Wölfe nicht fressen? Dann doch lieber heldenhaft untergehen, scheints, im Narrentum wie Hamlet, ohnehin mein heimliches Vorbild. Da man heute weniger zum Gemetzel denn zum Reden neigt, landete ich auf der Couch.

*Dieser Post enthält Pathos und Drama

10 Gedanken zu „Unter Wölfen*

    • :) Ich bin sehr spät drauf gekommen, was für Gepäck wir alle mitschleppen und wie tief Konditionierungen sitzen. Das Thema lag scheinbar in der Luft.

    • Nicht kleinlaut sein, bitte! Sie schreiben doch gerade an einer ähnlichen Geschichte. Was ich so verrückt an den Ängsten meiner Familie finde, ist, daß sie aus der Deklassierung und Entwertung kommen und nicht aus wahrer Not.

  1. auch ich stoße langsam, sehr langsam auf dieses thema. das ich wohl nur allzugerne auf die allzuleichte schulter eines „ist doch schon lange her und wir sind doch alle eins“ packen mochte. ein irrtum, wie mir scheint.

    gehen wir mal kaffee trinken, irgendwann? nächste woche oder so? (daß ich erst jetzt darauf komme…)

    • Kaffee? Gerne! Übernächste Woche vielleicht?
      Nächste Woche stammele ich mich doch durch meinen Vortrag.

  2. wow…. was für ein text…. und so auf dem punkt…. obwohl ich eine ganz andere und doch ähnliche biografie habe.
    merci

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