Es tut mir leid*

hier sind keine Bekenntnisse zu erwarten. Ich eignete mich nicht zum Mobbingopfer, weil ich zu weit außerhalb der Hackordnung stand, man hat außer Versuchen nicht einmal die Energie aufgebracht, mir diese Beachtung zu schenken. Meine Reaktionen waren auch nicht adäquat. Entweder ich verstand nicht, was die Leute von mir wollten oder wenn ich es verstand und es mich ärgerte, habe ich ziemlich kompromisslos zugeschlagen. Dann war die Sache erledigt. Oder ich zog mich zurück. Ohnehin meine normale Existenzform.
Ich hatte auch nicht den Drang mitzumobben, weil mir jegliche Gruppenveranstaltung zuwider war. Einmal klinkte ich mich nach langem Zuschauen in so eine „Iiiii die stinkt!“-Sache ein, in der fünften Klasse, mit einem Satz. Und dem Gedanken: Komisch, dass andere so was toll finden. Einen Tag später musste ich zu Direktorin und bekam den Kopf gewaschen. Ich, allein. Meine Erkenntnis daraus: Aha, wenn man so was macht, muss man sich danach rechtzeitig verpissen oder leugnen. War nicht meins.
Im Täter und Opfer sein war ich wahrscheinlich ganz normal. Wie das so ist auf dem Schulhof, mal fängt man einen Spruch oder einen Tritt, mal kommt einer zurück.
Ansonsten bin ich im Nachhinein ob der Geschichten anderer erstaunt, wie harmlos meine Plattenbaukindheit in den 70ern war. (die Zeit vorher als Kind allein in einem Riesengarten zählt nicht). Im Kindergarten gab es Hänselchöre. Ich sei ein Angeber. Ja, für mich war es normal, zwei Wochen in den Winterurlaub zu fahren. Aber ich wollte da sowieso nicht hin, also in den Kindergarten, zu viele andere Kinder, zu laut, zu hektisch. Also klappte ich die Ohren zu.
Die Schule schaffte es, eine Menge verschiedener Kinder zu integrieren. Bis auf die ein, zwei ganz gestörten Aggros, die um sich prügelten, nichts lernten und den Unterricht unmöglich machten, integrierte meine Schule so ziemlich alle. Es gab sogar einen autistischen Jungen, der in der Pause in der Ecke stand, mit dem Gesicht zur Wand, immer mal mit den „Flügeln“ schlug (er ruderte mit den Armen als wolle er losfliegen), der aber für keinerlei Kontakt zu haben war, weil er dann schreiend und schlagend auf alle losging. Deshalb hielt man sich fern von ihm und er war ein irre guter Schüler, solange er nicht reden musste. Auch ein schwer verhaltensgestörtes Mädchen fand Hilfe in der Klasse, obwohl sie schwierig war und ich bis heute noch nicht weiß, ob die Horrorgeschichten, die sie über ihre Stiefmutter erzählte, wahr oder ausgedacht waren.
Ansonsten gab es viele Dinge, für die man heute Schulpsychologen bemühen müsste: Gut über die Population verteilte, meist unblutige Prügeleien, Mappen und Mützen flogen über die Zäune, kleine Aggressionen. Aber selten etwas, das wirklich Grenzen überschritt und das hatte dann schnell Konsequenzen. Es gab lange Geduld mit einem Jungen, der wie ein gereizter Pitbull war (diese Aggro-Jungs waren alle aus ähnlichen Familien), als er eine schwangere Lehrerin trat, war die dann zu Ende. Eine Erzieherin attackierte einmal meinen Bruder. Das war eine absolut schräge Sache. Aber auf die Beschwerde meiner Eltern gab es eine Reaktion. Ein sadistischer Sportlehrer wurde von Vätern, die sich zusammengefunden hatten, grün und blau gehauen. Die soziale Kontrolle im Viertel war dörflich engmaschig. (Vielleicht hat Unfreiheit Vorteile für Leute, die mit Freiheit nichts anzufangen wissen.) Nichts, was man sich schönreden kann, aber es war scheinbar anders. Harmloser? Ich weiß es nicht. Es war keine gewaltlose Zone, über die plötzlich unmäßige Gewalt hereinbricht wie ein Vulkan, vor der alle hilflos wie die Hühner deeskalierend herumrennen. So kommt mir das heute manchmal vor.
Meine Außenseiterposition als dickes, nerdiges Mädchen war nicht immer angenehm. Einsamkeit und Unverstandenheit sind überhaupt nicht angenehm. Aber erträglicher als vieles andere. (Wenn es das Internet gegeben hätte, das wäre gut gewesen.)
Da ich mich nicht verstanden fühlte – ich las zu viele alte Romane und Lexika und hatte victorianisches Kopfkino, garniert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen – die Schule mich nicht wirklich ausfüllte, auch wenn ich im Unterricht abgestellt war, mich um schwächere Schüler zu kümmern (Sie merken, wir kommen zum zweiten Bekenntnisblock), ging ich mit 10 oder 11 Jahren, weil Socialising zu stressig war, einfach mehrere Wochen nicht mehr hin. Ich verpasste nichts. Heute würde man sagen unterfordert, hochbegabt. Klassen überspringen, das gab es damals nicht und dazu waren meine Fähigkeiten nicht ausgeprägt genug, ich war kein Superhirn. Nur eine normale Nerdesse. Außerdem: Hochbegabung hat einen Nutzen wie überirdische Schönheit. Man kann sie schmalspurig ausbeuten, aber sozial ist sieeher behindernd. Mein Vater und ich sind mit dem gleichen IQ geschlagen. Aber meine Grütze im Kopf verwandelt sich seit dem Burnout sofort in Popcorn, wenn ein Zeitlimit dazukommt. Nicht wichtig also, weil zu fragil.

*Keine Verteidigungsrede, kein Abwiegeln. Einer der besten Freunde hat tiefe Schäden von Mobbing aus der Kindheit davongetragen. Diese Wichser, die ihm das angetan haben, möchte ich noch immer umbringen, wenn ich auch nur die Andeutungen lese.

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Normalität ist eine Frage der Perspektive. Für Risiken und Nebenwirkungen konsultieren Sie die Gaußsche Normalverteilung. Es ist nie gut, in einer Gruppe von Schwachmaten der „andere“ zu sein.