Rückblick ins Kaleidoskop

Nun habe ich Tage davon geschrieben, wie gut es mir in Süditalien ging, jetzt erkläre ich noch ein paar Einzelheiten, denn als ich fuhr, wußte ich nicht so richtig, was mich erwartet. Ich war auf einem Grundtvik-Workshop, der von einem Weiterbildungszentrum in Palermo veranstaltet wurde, das mit der sogenannten Mäeutik, den Methoden von Danilo Dolci, dem „sizilianische Ghandi“ arbeitet. Ich hatte es kurz ausgeführt, es ging um kreative Methoden in der Erwachsenenbildung – konkret in der Literalisierung.

Triggerwarnung: Besinnungsaufsatz.
Dieser Text könnte langweilig, weil zu lang sein. Ich schreibe das hier auch noch einmal für mich auf, weil ich durch Englisch verstehen und sprechen (ich habe es ja nie richtig gelernt) so beansprucht war, dass mir jetzt, im Aufschreiben, viele Sachen erst klarer werden.

Literalisierung?

Platt übersetzt bedeutet Literalisierung, dass Menschen schreiben und lesen können. Die erweiterten Begriffe Multiple Literacies und Multiliteracy beziehen die Teilhabe an Kultur, sozialer Kommunikation und Gesellschaft und das Wissen und die Fertigkeiten, die für diese Teilhabe erforderlich sind, mit ein.
Wie erreicht, aktiviert und integriert man Menschen, für die die Spielregeln und Handlungen einer Gesellschaft zutiefst fremd sind, die aus verschiedenen Gründen (Einwanderung, schwierige Lebensumstände, Behinderung, existenzielle Not) außen vor geblieben sind?
Oder aus anderer Perspektive: Wie lernst du am besten, dich zurechtzufinden, wenn du deine Verhältnisse ändern willst und damit Neuland betrittst?[foot]So eine Literalisierung hätte ich mir vor 20 Jahren für die Menschen in den „Beitrittsgebieten“ der DDR gewünscht. Aber komischerweise hatten das die westdeutschen linken Bewegungen nicht im Focus, die sahen wahrscheinlich auch nur Konkurrenz und Überfremdung ihrer Gebiete.[/foot]

Kleiner Exkurs: Die deutsche Volksbildungbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts tat das mit vereinfachten, illustrierten oder billigeren Ausgaben klassischer Literatur und mit Theater – der Volksbühnenbewegung. Ziel war, für Arbeiter und Bauern das bürgerliche Bildungsmonopol zu brechen, indem die bürgerliche Bildung adaptiert wurde. Der gebildete, einfache Mensch war das Ziel, der sich auf ein besseres Leben orientierte.
Man sieht, hier handelte es sich im wesentlichen um eine Bewegung zur einfachen Literalisierung – Welterfahrung und kulturelle Erhebung[foot]Erhebung als ganz wichtiges Wort des deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Vgl. Friedrich Theodor Vischers Ästhetik und Theorie des Erhabenen („Über das Erhabene und Komische“ „Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen“), die Hegels ästhetische Lehre weiterschreiben sollte.[/foot] durch Literatur, Drama und erste Versuche zu deren Erweiterung, wie die Lebensfeldgestaltung durch die Architektur der Moderne (Stichwort Bauhaus).[foot]Achtung, sehr verallgemeinert.[/foot]
(Ich gehe jetzt nicht auf die Bewegungen ein, die die politischen Strukturen ändern wollten, da kämen wir nämlich auch auf das weite Feld von Sozialismus und Nationalsozialismus.)

Zurück zum Workshop

Danilo Dolci fand in den 50er Jahren in Sizilien katastrophale Verhältnisse vor: Eine fruchtbare, gesegnete, uralte Kultur-Landschaft, bewohnt von armen Menschen, die in rückständigen Verhältnissen lebten, offiziell in einer Demokratie, inoffiziell aber beherrscht und benachteiligt von den gewalttätigen Familienbünden der Mafia. Hier ging es nicht nur um preiswerte Bücher. Hier ging es um intakte Straßen, grundlegende Hygiene, medizinische Versorgung, Essen und Schulen für die armen Massen – und vor allem im Weiteren um die Errichtung funktionierender kommunaler Strukturen und deren Mitbestimmung.
Sein Ansatz war, nicht für, sondern mit den betroffenen Menschen bessere Verhältnisse zu schaffen. Ein ganz anderes Konzept als z.B. das des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, der patronisierend für seine Bürger sorgt. – Aus der Not geboren, denn das Konstrukt demokratischer Staat/Kommune war in Süditalien in dieser Zeit blockiert und diente nur Wenigen.

Was hat das mit dem Jahr 2014 und Europa zu tun?

Viel. Der Workshop hatte Teilnehmer aus 11 Ländern. Von Skandinavien bis zum Balkan. Von entwickelten Industrieländern bis zu korrupten DemoBürokratien. Von Agrar-Ländern, in denen Roma aus den feigenblattähnlichen Integrationsstrukturen des Sozialismus gefallen sind, über von der Euro-Krise schwer betroffene Länder, bis hin zu Industrie-Nationen, die hohe Ansprüche an den Bürgersinn haben.

Was hat das mit Lehren und Kreativität zu tun?

Ebenfalls viel. Ex cathedra zu lehren, erreicht viele Menschen nicht, vor allem, wenn sie Verständigungs- und Bildungsprobleme haben. Viele Situationen erklären und sich besser, wenn sie mit Aktion und Emotion zu tun haben. Be-greifen und be-mächtigen über Handeln. Auch wenn es sich vielleicht erst einmal um konsequenzgemindertes Probehandeln in Form von Spielen und Simulationen geht.

Was war mein Interesse?

Ich kam ein bisschen dazu wie die Jungfrau zum Kind, das schrieb ich ja schon. Aber für meine Seminare ist mir jegliches Lernen neuer Methodik sehr willkommen. Die Zeit von Februar bis September dieses Jahres habe ich mir dafür reserviert, Sachen zu machen. Neue oder zu lang verdrängte, die erstmal keinen unmittelbaren Nutzen haben, von denen ich aber aus Erfahrung weiß, dass sie mich mit sehr verspäteter Wirkung oft weiterbringen könnten. Ich bin also im Spielmodus.
Ganz zuletzt auch: Ich wollte etwas tun, was ich noch nie getan habe und meine eingetrampelten Pfade verlassen. Raus aus meiner Introvertierten-Komfortzone, aus der Internet-Kommunikation, aus der Schrift, aus der Muttersprache.
Ich hatte tierisch Schiss, dass ich dem ganzen nicht gewachsen sein würde. Kräftemäßig, mental, sozial, sprachlich (ich hatte als glatte Lüge „Englisch gut“ in den Teilnahme-Antrag geschrieben) – kurz, dass ich mich in ein panisches, hinter dem Schrank hockendes Kind verwandeln würde oder mich der Data-Overload pulverisiert.
Was nicht passierte.

Aber was passierte?

Die ersten zwei Tage waren kennenlernen, eingrooven und tierisch viel Theorie.
Recht bald verabschiedete ich mich von dem Gedanken, die zurückhaltende lächelnde Dame mittleren Alters zu geben. Erstens bin ich das sowieso nicht und zweitens sagte ich mir sehr schnell: Wo, wenn nicht hier, kann ich ohne Angst vor Fehlern und Blödheiten aktiv lernen? Schließlich ist das das Ziel der mäeutischen Methode. Außerdem war ich nicht die einzige mit Verständigungsproblemen.
Neben Theorie wurde hingebungsvoll gebastelt, gemalt, gespielt und präsentiert. Ich stellte radebrechend Stories & Places vor und stieß auf Interesse, ich spielte eine subalterne Lehrerin und eine prügelnde alte Frau. Mit viel Spaß.
A propos Methode: Wir hatten einige (englische) Texte zur Vorbereitung bekommen, die ich im Flugzeug überflog. Meine freie Zeit vorher (und viel zu viel davon) hatte ich zur Vorbereitung auf die Deutschland-Präsentation vor nicht englisch sprechenden Erwachsenen verwendet. Bei der Methode hatte ich darauf vertraut, dass man sie uns erläutert. Erst bei meiner Rückkunft sah ich, dass auf der Website des Veranstalters ein langer Text auf deutsch dazu verlinkt war. Dieses Grundlagenwissen fehlte mir.
Das war mal wieder ein typischer Kitty – vollkommen ahnungslos, mit „wird schon“ auf den Lippen in etwas reinzustolpern.
Bei den Lektionen lebte ich im Moment. Ich nahm mir das heraus, was interessant für mich war. Das Interessantere passiert ohnehin oft in den Zwischenräumen.

Das eine waren die Nationen. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich ein Gefühl dafür bekommen habe, was Europa (als Union) gerade ist.
Was ein sehr gutes, stark und optimistisch machendes Gefühl ist, vollkommen jenseits des Bürokraten-Horrors aus Straßburg und Brüssel. Europäer ähneln sich sehr, in ihren Werten und Biografien und auch in ihrem Habitus. Wir sitzen in einem Boot, das sehr alt ist und schippern gemeinsam in Richtung Zukunft.
Das andere waren die Menschen hinter den Nationalflaggen. Von freundlich zurückhaltend – verschlossen und schweigsam – mit koboldhaften Witzausbrüchen – elegant und sanft – schlicht und bodenständig – charmant und glatt – barock und überschäumend – jung und naiv – war alles da.
Ich hatte in den zehn Tagen kein einziges „was für ein_e Idiot_in“-Erlebnis. Es gab einmal eine „herrklären“-Situation, wo ich – für solche Gruppenarbeit ungewöhnlich – den Mann kurzerhand weggeschickt habe (und der meinte es tatsächlich gut, hat es aber nicht gut angefangen), aber das war es auch.
Bei allem Nähegefühl war es dann wiederum ein Erlebnis zu merken, dass Klischees über Nationen sehr zutreffend sein können. Ich war immer diejenige, die auf die Uhr sah und auf Einhaltung von Plänen und Absprachen bestand. Die Letten sahen aus, wie aus dem Boden gewachsen. Der Franzose wie Tintin. Die Holländerin wie Frau Antje etc…
Natürlich gab es Klatsch und Tratsch, auch über mich, aber ich habe ein hohes Ignoranzpotential und wenn ich nichts verstehe, erst recht.

Vor der eigenen Tür kehren

Was für mich das Interessanteste war: durch dieses ganze Konglomerat von Umständen und Zufällen befand ich mich in exakt der Position, die kommunikativ benachteiligte Menschen in einer Gesellschaft haben. Das passiert mir ja sonst selten und ich meide diese Gelegenheiten. Das war mit die wichtigste Lerngelegenheit, plötzlich nicht mehr intellektuell brillieren daherschwätzen zu können. Mühsam nach Worten zu suchen und dann waren es doch die falschen, missverstanden werden und nicht mehr die Energie und Zeit haben, das auszuräumen. Sich thematisch vergaloppieren und das nicht diskutieren und die eigene Position nicht korrigieren können, mangels Verstehen in sehr abstrakten verbalen Ebenen.
Man kommt sich irgendwann doof vor, zurückgesetzt und ausgeschlossen und entwickelt andere Strategien, sich durchzubeißen – sich rausziehen und sein eigenes Ding machen oder ziemlich holzschnittartig und fast aggressiv werden. Überhaupt viel zu viel Energie zur die Bewältigung von Sprache und nicht von Inhalt und Dialog brauchen.
Es gab noch zwei sehr gut deutsch sprechende Teilnehmerinnen, denen wollte ich aber nicht ständig am Rockzipfel hängen. Außerdem wollte ich genau durch diese Sache durch. Dem nachspüren, was mit mir passiert, wenn ich mal nicht die große Schnauze haben kann und meine üblichen Sozialstrategien nicht funktionieren.

Entwicklungslinien

Eine für mich interessante Beobachtung war, dass die Leute der erst seit ein paar Jahren der EU beigetretenen Länder – Bulgarien, Rumänien – oft ähnlich zurückhaltend, schweigsam und vorsichtig wirkten, wie die Ostdeutschen in den 90ern. Die sind mitten im Veränderungsprozess ihrer Werte und Meinungen, glaube ich.
Während Lettland und Slowenien in der europäischen Position einfach dorthin zurücksprangen, wo sie schon einmal waren und fest auf beiden Beinen stehend wirkten. (Pure Spekulation, nicht belastbar. Fiel aber auf.)
Ich war zwiegespalten. In meinen Werten und Meinungen war ich Vertreterin Westeuropas und im Stillen meldete sich die ostdeutsche Identität[foot]Was auf Twitter aufploppte: Warum gab es eigentlich keinen Volksentscheid zum Palast der Republik, wohl aber einen zum Tempelhofer Feld? Weil die Ostdeutschen damals in demokratischer Teilhabe noch ungeschult waren?[/foot], die sagte: Ja, aber du hast dich nicht immer frei von Unterdrückung gefühlt und Gestaltungsmöglichkeiten hast du auch erst, seit du dich im Westen integriert und andere Werte losgelassen hast, durchaus mit Verlust.

Meine Fragezeichen

Was für mich bis zum letzten Tag unklar blieb, war die Positionierung der uns anhand von Methoden vermittelten „non-formal education“ im Bildungsprozeß und in der Gesellschaft.
Einerseits waren die Teilnehmer zum größten Teil Lehrer und es wurde immer wieder von Bildung, Erwachsenenbildung und den starren und bevormundenden Strukturen der Bildungseinrichtungen gesprochen. Die sogar auf andere Einrichtungen ausgeweitet wurde – Polizei, Krankenhäuser u.a. Andererseits hieß es, es ginge nicht um Schulen.
Danilo Dolci hatte eine Art strukturferne basisdemokratische Gruppentherapie mit einem väterlichen Mentor entwickelt, nicht ungewöhnlich für die 70er Jahre, denke ich, weiß es aber nur aus der Literatur, in dieser Zeit lebte ich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Dazu kam als Methode das Theater der Unterdrückten – Boals Modell, soziale Szenarien durchzuspielen und im Spiel zu verändern.

Vielleicht bin ich da auch total blind. Entweder bin ich die typische (Ost-)Deutsche, die nur in organisierten Strukturen denken kann (wenn Bildung, dann von Staat/Kommune organisierte Schule) oder es ist für mich so selbstverständlich, weil ich seit Jahren mit nonformalen Entwicklungsstrukturen lebe.
Ob S.R.A.L., die experimentelle Filmgruppe ohne Leitung (die immerhin 7 Jahre existierte und noch heute ein unsichtbares Netzwerk ist), der Me Made Mittwoch oder die Yarnbombing-Aktionen vor zwei Jahren. – Für mich ist es normal, dass ich mich immer mal Gleichgesinnten anschließe, um Sachen herauszubekommen oder zu lernen.[foot]Was tiefe politische Veränderungen betrifft, bezweifele ich, dass das „schön, dass wir mal drüber reden und ein paar Aktionen machen“ funktioniert. Zumindest habe ich das so im Kopf, von dem, was aus Richtung der Grünen in den 80ern über die Mauer wehte und die katastophalen Kommunikationspannen der Piraten sind noch ganz frisch. Als ungeordneter Haufen loszustürmen, bringt nur einen Anfangserfolg. Um etwas zu erreichen, wird eine Organisationsstruktur benötigt.[/foot] Gleiches betrifft das digitale Leben: Schwarmintelligenz, demokratische Wissenssammlungen wie Wikipedia, Crowdfunding – das ist doch alles schon da. Wurde aber in dem Workshop mit keinem Wort erwähnt. Wir redeten über Methoden der 60er und 70er Jahre. Verdammt noch mal! Das ist 40-50 Jahre her! Die Welt hat sich seitdem sehr verändert!
Und wir wissen auch um die Grenzen nonformaler Entwicklung. Dass Entwicklung über Kreativität nur dann wirklich nachhaltig funktioniert, wenn sie mit Handwerk/Wissen und Struktur verknüpft wird. Dass basisdemokratische Bewegungen extrem fragil sind und immer wieder gegen Übernahme und Instrumentalisierung durch einige Wenige verteidigt werden müssen und daß das eine Menge Energie wegzieht.

Wir haben im Workshop nur eine Seite der Medaille betrachtet: Eine in starren sozialen Normen und Kontrollmechanismen gefangene Gesellschaft, die aufgebrochen werden muss und Neuschöpfung, Handlungs- und Denkfreiheit feiert.
Nur: Das ist nicht das Problem der entwickelten europäischen Länder[foot]Hier existiert eine neue Sprachlosigkeit und der gesellschaftliche Diskurs ist in anderen Formalia erstarrt. (Dazu paßt dieser Artikel, der sich Rezeption und Kritik von Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“ detaillierter anschaut.)[/foot] (und unser Thema war ganz Europa), das ist sicher das Problem einiger Balkanländer und der Türkei (wir hatten zwei türkische Teilnehmerinnen).
Es gibt nicht umsonst einen starken neuen Puritanismus in Amerika und Westeuropa. Die Strukturen wurden so weit, dass der Einzelne sich darin verliert, keinen Halt und keine Identität mehr findet in der uniformen Individualität der Subkulturen, wenn alles möglich ist und wenn die erfolgreiche Existenz nur noch das Problem der Selbstoptimierung und -konditionierung des versagenden Individuums ist.
Mir fehlte die höhere Einordnung. Dass es gesellschaftliche Peripital- und Zentrifugalkräfte gibt. Dass Gesellschaften schwingen. Sich entgrenzen und wieder sammeln, sich befreien und sich wieder ordnen, aufbrechen und erstarren.[foot]Ich bin ja Norbert Elias-Fangirl[/foot] Daß wir zuallererst in so einer Runde unsere Koordinaten und unsere Position bestimmen sollten.

Und da ende ich mit einem ganz banalen Goethe:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt!
Quelle: West-östlicher Divan, Buch des Sängers, Talismane