Sonntagsmänder am vorletzten Sommertag

Morgen noch mal bei 34 Grad Dampfgaren im Büro und dann ist es wohl vorbei mit dem heißen Sommer.
Ja, Büro. Morgen sind 2 Wochen Urlaub vorbei. Der erste Urlaub seit 1994, in dem ich einfach nicht erreichbar sein durfte – und trotzdem bezahlt wurde und Urlaubsgeld obendrauf bekam. Luxus, großer Luxus. Und das Gefühl, wie ein Schulkind vor dem neuen Schuljahr zu stehen und zu denken: Ja, aber ich will doch den ganzen Tag spielen!, das gibt es wahrscheinlich gratis dazu.

Dessen ungeachtet bekommt ein Plan B Konturen. Mal schauen, ob und wie das funktionieren könnte. Fernziel wäre, von zu Hause und ggf. auch von Berlin unabhängig zu arbeiten und die Arbeitszeiten an die tatsächliche Nachfrage anzupassen. Also weg von täglich 9to6, das konnte ich noch nie. Ich habe immer viel gearbeitet, wenn viel zu tun war, aber nie Arbeit simuliert, wenn es ruhiger wurde.
In diesem Sommer sind kurz hintereinander zwei Menschen aus meinem früheren Arbeitsleben gestorben, nur wenige Jahre älter als ich. Einfach so, unerwartet, in keiner Risikogruppe. An verschleppter Krankheit bzw. plötzlichem Herztod.
Meine Zeit wird wertvoller. Ich möchte sie mit den Menschen, die ich liebe, verbringen und mit den Tätigkeiten, die ich liebe.

Wir waren einige Male schwimmen und ich merke, wie gut es mir tut, mehr als eine Stunde über einen ruhigen See zu ziehen. Für den Körper sowieso, aber auch für die Seele. Das ist nicht zu vergleichen mit dem Mief und der Enge eines Schwimmbads.

Weiter. Es gibt ein Thema, das für Twitter ungeeignet ist. Vor dem, was momentan passiert, kann niemand abtauchen. Plötzlich stehen in Deutschland Menschen vor den Türen. Kriegsflüchtlinge, Elendsflüchtlinge, Glückssucher. Viele. Mitten in der Urlaubszeit, in der Ämter, die ohnehin Dienst nach Vorschrift machen – was eine Qualität wir auch ein Fluch sein kann – genau wie andere Firmen minder besetzt sind. Die Lage der Menschen, die darauf warten, ihren Asylantrag zu stellen, ist unwürdig und prekär, zumindest in Berlin. Bürgerinitiativen versorgen die Ankömmlinge und organisieren und koordinieren diese Arbeit selbst, in anderen Regionen ist das Aufgabe der Verwaltung.
Mehr als Tausend obdachlose Menschen – das ist ein Altbau-Straßenzug in Berlin – kann diese Stadt also nicht versorgen und sie stranden zunächst in der normalen Berliner Ignoranz, die diese Stadt so frei macht, aber auch so unsozial. Ich möchte es nicht erleben, dass es hier einmal zu einer ernsthaften Katastrophe kommt.

Ich schicke den längeren Ausführungen eines voraus, falls das jemandem nicht klar sein sollte. Ich halte es für selbstverständlich, Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Für alle anderen, deren Leben viel besser wird, wenn sie ihre Heimat verlassen, braucht Deutschland ein Einwanderungsgesetz, wie es viele andere Länder mit hoher Lebensqualität und -perspektive haben.

Aber ich wollte eigentlich über etwas anderes schreiben, über Dresden, über Menschen, die als Pack bezeichnet werden und statt sich zum Schämen in die Ecke zu verkriechen, diese Bezeichnung annehmen.
Es gibt aber vorher noch eine Trigger-Warnung. Was ich hier schreibe, hat keine soziologische Fundiertheit. Es ist „grabe, wo du stehst“. Wer das nicht mag, sollte nicht weiterlesen.
Mein Großvater war Dresdner und wie sein Vater aktiver Kommunist, manchmal auch kommunistischer Aktivist. Er kletterte mit den Roten Bergsteigern im Elbsandsteingebirge und er erzählte mir, wie sich nach dem Klettern in der Kneipe die jungen Männer an der Farbe ihrer Anoraks erkannten.  – Blau Kommunisten, braun Nazis. Waren genug Leute der jeweiligen Gruppierung vorhanden, gab es nicht nur Gepöbel, sondern aufs Maul.
Diese Ecke da oben ab Pirna war schon immer so starr im Kopf wie heute. Was ab der Romantik für die Oberklasse Naturschönheit war, war für die Menschen dort karger Boden und wenig Platz für Wohnraum. Zog Krieg durch, nahm man die Habseligkeiten und das Vieh und versteckte sich in den Höhlen. Wildern und Schmuggeln gehörten zum Leben. Für Neuankömmlinge war in der Regel kein Platz. Das war ein Ort, von dem man wegging, wenn das Handwerk oder der Hof niemand weiteren ernährte, aber keiner, an dem man sich neu ansiedelte oder Neuankömmlinge freundlich begrüßte, es sei denn, sie waren Touristen, ließen Geld da und gingen wieder. (Hier ein interessanter Blogpost von Wolfgang Michal zur ganz alten Fremdenangst in Sachsen.)
Der Talkessel Dresden war weiter und offener und doch ähnlich beschränkt. Hier findet man die Oberklasse sogar geografisch ganz weit oben – wer es sich in den Zeiten der Industrialisierung leisten konnte, hatte unten die Fabrik und baute von deren Profit oben am südlichen Elbhang in der klaren Luft eine Villa. Unten im Smog bildete das Pack hustende Klumpen in der Friedrichstadt, den Souterrains und Dachkammern der Äußeren Neustadt und später in Leuben, Niedersedlitz und Heidenau. Chemie- und Papierfabriken verpesteten die Elbe, Dampfmaschinen und Brennereien die Luft. Das hielt sich noch lange nach dem Krieg bis zur Wiedervereinigung, weil die Industrie nie großartig saniert wurde, man lebte von der Substanz. Nur die Villen am Elbhang waren aufgeteilt, hier wohnten nun viele Familien und sie verfielen allmählich als Relikt der alten Zeit und weil keiner sie erhalten konnte.
Dresden, das Tal der Ahnungslosen, wo man sich vom Westen erzählen lassen musste, weil das Westfernsehen nicht bis in den Talkessel kam, leerte sich. Man ging ins das Land der Verheißungen, wo man binnen kurzer Zeit ein Haus bauen und zwei Autos haben kann und wenn man mal keinen Bock auf Arbeit oder keine hat, bleibt man erstmal ein, zwei Jahre zu Hause und bekommt trotzdem genug Geld.
Dagegen redete nicht nur die Genossen an, sondern auch die linken Aktivisten, die das Land reformieren wollten. (Hier vermisse ich einen Link zu einer Schrift der Umweltbibliothek, die sich explizit gegen dumme und verblendete Wirtschaftsflüchtlinge aus der DDR wandte, der mir dieser Tage per RT in die Timeline gespült wurde.) Wer von guter Moral war (oder halt den A… nicht hochbekam oder heimatverwurzelt war und hier was zu verlieren hatte) blieb.
(Und wurde kurz darauf gef…t, möchte ich hier flapsig schreiben.)
Nach der Wiedervereinigung kamen sie in Horden in das Vakuum, das die weggejagten Genossen hinterließen. Die Geschäftemacher und Verkäufer, für die der Osten 17 Millionen neue Kunden bedeutete. Die Glücksritter und Heilsversprecher, die die nicht mehr konkurrenzfähige Industrie ausweideten oder aber dafür sorgten, dass der Konkurrent vom Markt verschwand. Die Investoren und Erben, die im Westen nicht den richtigen Claim gefunden hatten und es sich hier aussuchen konnten. Die drittklassigen Beamten, die qua Buschzulage die hakende Karriere pimpen konnten. Nicht zuletzt die, die sich preiswert in einer alten Kulturlandschaft ansiedeln wollten, die, die ihren alten Besitz wieder zurückkauften und solche, die sich als Entwicklungshelfer verstanden (was auch impliziert, dass die Eingeborenen grade noch mit der Keule durch den Wald rannten).
Linke und rechte politische Phantasten gab es gratis obendrauf. Mein Bruder war Anfang der Neunziger Sprecher und Aktivist der Marxistischen Linken in Dresden und warf das Handtuch, als diese Spinner einritten und begannen, rumzukrakeelen.
Die Entscheider, Eliten und Führungskräfte in sächsischen Ballungsgebieten wurde binnen 4-5 Jahren fast komplett durch Zugereiste aus dem Westen ausgetauscht, es bildete sich dazu eine bürgerliche Oberschicht, die vorher kaum noch existierte. Am Elbhang wohnten nun wieder reiche Großbürger, Unternehmer und hohe Beamte. Die linken Utopisten hatten die Äußere Neustadt okkupiert. Die Dresdner wurstelten sich so durch, wer etwas konnte, das die moderne westliche Industriegesellschft brauchte und/oder jung und anpassungsfähig war, hatte Glück. Die anderen waren auf Kurzarbeit 0, arbeitslos, Umschüler und schließlich ABM-Kräfte, sie bildeten das Kundenpotential für Quelle, Bertelsmann und Beate Uhse und hielten als Vorbild für die einfältige Dialekt-Lachnummer im Fernsehen und auf der Straße her.
Kurt Biedenkopf versuchte, ein Bundesland nach dem Vorbild von Bayern aufzubauen, das ist ihm in vielem gelungen. Schule und Verwaltung funktionieren, der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist genauso volksnah und korrupt wie in den alten Bundesländern. Arbeit, vor allem schlecht bezahlte Arbeit gibt es auch wieder einigermaßen. Die Seelen der Alteingesessenen schweben aber immer noch in einem undefinierbaren Identitäts-Niemandsland. Sie benutzen die neue Infrastruktur, sie sind stolz auf ihr kleines Musterland, aber sie sind auch Fremde darin und kompensieren das durch lautes „Mir sin mir!“
Der Grat zwischen dem ausgelachten Zoni in Schneejeans, der von nichts eine Ahnung, aber große Erwartungen und Ängste hat und dem überangepassten Fake-Ed-Hardy-über-Plautze tragenden Superchecker, der laut über „unsere Regeln, unsere Bräuche“ schwadroniert, ist sehr sehr schmal.
Traditionelle Milieus neigen dazu, Parallelgesellschaften zu bilden, damit man unter sich ist, das Neue ist der Feind, das gilt für Einwanderer aus dem ländlichen Anatolien und ostdeutsche Datschenbewohner in gleicher Weise.

Noch mal zum Mitschreiben für die, die sich das nicht vorstellen können. Die Demütigungen, Kränkungen und Verunsicherungen, die ein durchschnittlicher ostdeutscher Mensch meiner Generation und älter erlebt hat, sitzen nachhaltig und tief. Durch jeden dieser Menschen gehen Risse.

Zudem lebten sie in einem double-bind. Denn das Geld für die sozialen Wohltaten, die die ostdeutschen Minderleister den Brüdern und Schwestern gleich stellten, kam aus dem Westen und bescherte Deutschland einen 20 Jahre langen wirtschaftlichen Einbruch, der sich (unter anderem) erst mit Hartz IV zum Besseren wendete.
Die Konsequenz von Hartz IV ist eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft, die dauerhaften Empfänger dieser Leistung werden als stigmatisiert wahrgenommen. Es bildet sich ein neues Lumpenproletariat aus Menschen, die zwar nicht mehr hungern und verelenden, die aber perspektivisch (z.T. trotz Arbeit) nicht aus dem Transferleistungsempfang herauskommen werden oder aber immer wieder in der Gefahr sind, innerhalb kurzer Zeit hineinzurutschen.
Zudem hat sich eine neue Schicht von Arbeitern und Angestellten gebildet, deren Existenz zwar transferleistungsunabhängig ist, die aber bei Krisen oder persönlichen Schlägen Gefahr laufen, alles Geschaffene schnell zu verlieren, bevor die Grundsicherung greift. Diese Menschen schlittern auf sehr dünnem Eis und in Ostdeutschland haben sie auch kein familiäres Fallback, denn ihre Eltern haben meist kein kleines Kapital oder Immobilien.
Cornelia Koppetsch dazu im Freitag:

„Wohlfahrt, Bildung, Gesundheit und selbst Arbeit sind inzwischen zu Gütern geworden, die der Staat nicht mehr fraglos zur Verfügung stellt, sondern (die) von den einzelnen erkämpft werden müssen Dabei schneiden jene besonders schlecht ab, die Hilfe am dringendsten benötigen. Der westliche Staat genoss nur deshalb eine breite Zustimmung, weil er in der Vergangenheit immer wieder als Wohlfahrtstaat auftrat. (…)
Besonders gravierend scheint es da, wenn nun Leute mit Zuwendungen versehen werden, die vermeintlich nicht dazu gehören: Flüchtlinge und Migranten. Flüchtlingspolitik ist eben auch Sozialpolitik.“

BTW. Lumpenproletariat ist übrigens in der Regel politisch konservativ bis reaktionär.

Solidarität als Stichwort. Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, hörten dieses Wort mehrmals täglich. Es ersetzte in vielen Momenten die Formulierung Nächstenliebe, war aber viel weiter gefasst. Denn Solidarität wollte mehr sein als die Liebe des Nächsten und Ähnlichen. Der Kommunismus begriff sich als internationale Bewegung. Solidarität wurde als weltumspannendes mentales und materielles Band in einem Zeitalter geringerer Mobilität begriffen (Brecht/Eisler/Busch Solidaritätslied):

Zumindest in meiner Umgebung glaubten das die Menschen und spendeten Geld und Arbeit für Menschen in Vietnam, Chile, Angola und Mosambique. Alle taten das, vom Schulkind bis zum Rentner. Manchmal nur Pfennige, aber wer den Pfennig nicht ehrt… Nach der Wende wurde bekannt, dass dieses Geld das Land nie verlassen hat und die Empfänger nie erreichte.
Karitative Leistungen waren weitgehend unbekannt, da das Land bis auf wenige Überbleibsel säkularisiert war.

Die auf starker sozialer Kontrolle und relativ wanderungs- bzw. veränderungsarmen Soziotopen basierende Gesellschaft in der DDR (in der Momentaufnahme einer oder zweier Generationen natürlich, dieses Land gab es ja nicht lange) hatte eine eigene, fast dörfliche Form von Nähe entwickelt. Man war aufeinander angewiesen, auf Unterstützung und Tauschwirtschaft, von Geld ließ sich fast nichts kaufen. Auch das war eine Form von Solidarität, die ihr abruptes Ende mit der Wiedervereinigung hatte. Plötzlich gab es starke Wanderungsbewegungen und gesellschaftliche Schichten differenzierten sich wieder und kamen in einen massiven Distinkstionsprozeß. In der Empfindung war sich nun jeder selbst der Nächste und musste schauen, wo er bleibt. Der Identitätsverlust kam obendrauf.

Identität. Wer ist man, wenn man plötzlich erklärt bekommt, dass die bisherigen Ideale und Werte der letzte Dreck sind? Für die älteren Deutschen im Osten passierte das nun schon zum zweiten Mal. Die Westdeutschen konnten die Nazizeit mit Leistung kompensieren und neue Werte definieren. Die Ostdeutschen hatten kein Wirtschaftswunder. Sie waren der arme, etwas hinterwäldlerische Cousin am Katzentisch.

Nationalismus. Es war für mich immer wieder erschreckend, wie schnell selbst sehr intelligente Menschen, denen man die Werte des Sozialismus nahm und die die neuen Werte des Kapitalismus nicht adaptieren konnten oder wollten, ideologisch 50 Jahre zurückfielen.
Endlich durfte man wieder deutsch sein. Die offizielle DDR-Identität war ja etwas sehr Schemenhaftes, Behauptetes und Fragiles. Etwas das deutsch war, aber nicht deutsch sein durfte, so was halbrussisches, aber auch wiederum völlig anders als der Rest des Ostblocks, der aus dem Russischen Großreich mit asiatischen Vasallenstaaten, Polen und den Resten von Österreich-Ungarn zusammengelötet war. Dieses Rumgedruckse erwies sich als Nährboden für alles Mögliche, wenn Menschen die kommunistische Ideologie verabschiedeten.
Umschwung in symbolischen Nationalismus, der Jahrzehnte in irgendwelchen Hirnkellern überdauert hatte, teilweise mit Anleihen an die militante Studenten- und Burschenschaftsbewegung, die über 100 Jahre alt war. Orientierung an der Anthroposophie und der Reformbewegung, die auch die Nationalsozialisten nährte. Platt-geschichtsvergessen-Pragmatisches „ja, aber der hat doch die Autobahnen gebaut und Kinder bekommen war auch willkommen“ oder die böse Glatze-Springerstiefel-Hitlergruß-Provokation, von der man wußte, dass sie immer ins Schwarze traf und Reaktionen hervorrief. Ich habe das nie verstanden, weil ich alles Totalitär-Ideologische hasse wie die Pest, aber es ist da. Als Provokation, als Trotzalledem, als Halt.
Eine panische Suche nach Orientierung wird sichtbar. No Exit, der Diplomfilm von Franziska Tenner zeigt junge Rechtsradikale bei dieser Orientierungssuche (und wird in der Berliner Zeitung von irgendeinem Fatzke aus dem Westen verrissen, weil sich scheinbar Ostdeutsche nicht einmal ihren eigenen Herangang zu diesem Thema erarbeiten dürfen).
Kleiner Exkurs, Franziska Tenner ist eine der wenigen, die schon Anfang der 90er Recherchen im rechtsradikalen Milieu machte, sie weiß sehr genau, worum es geht, sie kennt die Akteure. Ein Milieu, in das sich normale Akademiker in der Regel nicht hintrauten.

Fremde. In der DDR, die sich weitgehend abgeschottet hatte, damit das Land nicht binnen kurzem verlassen daliegt und „der Letzte das Licht ausmacht“, wie es in einem viel erzählten Witz hieß, gab es kaum Fremde. Schon gar keine, die einfach so ins Land kamen. Es gab kubanische, polnische und vietnamesische Vertragsarbeiterinnen. Es gab die sowjetischen Truppen, die ihre eigene Gesellschaft bildeten. Es gab Afrikaner aus Mosambique, von denen ich immer dachte, sie würden einen Beruf lernen, die aber als Waldarbeiter eingesetzt wurden.
Begegnungen zwischen den Deutschen und den Fremden über die Arbeit oder organisierte und beaufsichtigte Treffen hinaus waren nicht erwünscht. (Allerdings nur im Arbeitermilieu, an den Universitäten war das anders.) Beziehungen gab es schon gar nicht, die waren regelrecht untersagt und es gab Strafen bzw. Versetzungen, die das Paar auseinanderbrachten. Deshalb blieben die Leute auch nie lange, damit sie sich nicht integrierten.
Für einfache, nicht mobile Leute waren das schon immer Fidschis, Preßkohlen oder Russenbesatzer, zumindest wenn man unter sich war, nur die gebildeten Schichten waren offener, hatte aber auch bessere Begegnungsmöglichkeiten durch das Studium oder Auslandsaufenthalte.
Kleiner Exkurs: In so einer Gesellschaft strandeten 1992 in Rostock-Lichtenhagen die vietnamesischen Vertragsarbeiter, die ihr Land nicht mehr zurücknahm und die sich mit allem möglichen durchbrachten und brachen hunderte Südeuropäische Einwanderer, vor allem Roma, ein, die wochenlang auf den Grünflächen zwischen den Plattenbauten kampierten, weil sie in einem suboptimal arbeitenden Amt Asyl beantragen wollen. (Also die LaGeSo-Situation in Berlin, nur ohne kleinen Tiergarten in der Nähe und unter Menschen, die Migration nicht kannten.)
Hier gibt es übrigens einen sehr interessanten und differenzierten Artikel dazu, der auf das Klischeefoto von dem Heil-Hitler-Typen mit der bepissten Jogginghose verzichtet.
Es ist kurzsichtig, Nazi zu schreien und nicht nach den Ursachen zu suchen, denn die Ereignisse von Lichtenhagen passierten nicht im luftleeren Raum. Da gab es keine Nazivergiftung per Chemtrail, noch war die DDR heimlicher Unterschlupf aller Nazis, die es im Westen wohl scheinbar nicht mehr gab.

Nazi. Ich halte es nicht für gut, jeden konservativen oder reaktionären Rumbrüller als Nazi zu etikettieren. Es ist sicher bequem, denn es entbindet einen vom Nachdenken und Privilegien checken, denn die meisten als Nazis etikettierten Menschen sind Unterprivilegierte gegenüber dem Nazi-Etikettierer.
Die wenigen Nazis, die ich kennengelernt habe, waren Arbeiter oder Ungelernte mit nicht viel im Kopf, kaum sozialen Bindungen, aber einer Menge Kraft und Energie, plötzlich keiner Vergangenenheit mehr und wenig Zukunft. Wo sollen da bitte moralische Werte herkommen?
Und dann gab es da noch die Rattenfänger, die kleinen Führer, die in der Menge badeten oder sich in den Männerbünden wohlfühlten.
Ich glaube nicht, dass es jemand von den politisch Radikalen wirklich nachhaltig ernst meint, bis auf ein paar ganz Ausgetickte, die dann auch ganz schnell außerhalb der Gesellschaft stehen und von Bewunderern freiwillig und Kontrollorganen (unfreiwillig?) über V-Leute supportet werden. Aber auch diese Leute können sehr viel Schaden anrichten. Siehe NSU, siehe RAF.
Es will mir nicht in den Kopf, dass Leute ernsthaft Gesellschaftssysteme wieder aufbauen wollen, die nach ein paar Jahrzehnten mit Riesenkrach gescheitert sind. Ich glaube das einfach nicht.

Es gilt die Mitläufer einzufangen, wieder einzunorden, in die gesellschaftliche Kontrolle zu bringen, möglichst bevor sie einen Molotow-Cocktail in der Hand haben und denen, die kommen und um Asyl bitten, zu zeigen, dass man denen Deutschland nicht überlassen hat.

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20 Gedanken zu „Sonntagsmänder am vorletzten Sommertag

  1. Danke. Meinem Empfinden nach sind diese „drittklassigen Beamten“ bis heute ein ernstes Problem. Die richtig guten sind nämlich wieder weg und die menschlich und fachlich problembehafteten hat es in hohe Führungspositionen gespült, wo sie ihresgleichen, wenn auch nicht mehr aus dem Westen, nachziehen. Jedenfalls beobachte ich das in Verwaltung, Justiz und Polizei. Nicht dass es nicht auch dort Gute gäbe, aber sie stehen sehr häufig sehr isoliert auf ihren Posten.

  2. Danke für diese ausführliche Erklärung.
    Ich kenne genau 8 Sachsen, also ist mein Wissen auf Medien angewiesen. Und da findet man solche Ausführungen eben nicht.

  3. Auch ich sage danke. Hoffentlich bloggen Sie noch oft und lang. Was ich bei Ihnen lese, finde ich sonst nirgendwo.

  4. Darf ich auch noch – ganz unoriginell – einfach danke sagen? Insbesondere der ausführlich Exkurs zu Dresden, dem omnipräsenten, wen auch langsam verblassenden Fokus meiner Familie und auch einem meiner Kindheit, hat halbfertige Gedanken wieder angestoßen und hat mir geholfen, zu verstehen.

  5. Danke, das hilft mir ein Stück beim Verstehen, wie man so sein kann. Ein Punkt aber stört mich gleichwohl: Es nimmt diesem mörderischen Mob doch eine Menge Verantwortung ab, wenn man die Gründe für diese Entwicklung in der wirtschaftlichen Situation und der ideologischen Entwurzelung verortet. Es gehört doch eine gewisse Prädisposition dazu, statt Chancen nur Unsicherheit zu sehen, und in der Ideologieoffenheit nicht die berauschende, schwindelerregende, nie dagewesene Freiheit, auf alle Fragen selbst Antworten zu finden. Wer dann nur hässliche Antworten findet, der ist – unabhängig von mehr oder weniger Bildung und Intelligenz – vielleicht eben einfach nur hässlich.

    • Damals, 1992, sagte einer meiner geistlichen Lehrer, Armut und Unbildung entschuldigten nichts, denn auch Jesus sei ein Zimmermannssohn gewesen und kein Schriftgelehrter. Wer Armen und Ungebildeten einen moralischen Rabatt einräume, überhebe sich in Wirklichkeit über diese, weil er ihnen nicht einmal zubillige, einen eigenen moralischen Kompass zu besitzen. Die Menschen, die die BZ hier zeigt, sind – folgt man dem – einerseits arm, andererseits schlecht, aber beides hat nichts miteinander zu tun.

    • Solche Sprüche wie „erst mal muss es allen Deutschen gut gehen“ (siehe BZ) habe ich im Frühjahr 1990 auch schon zu hören bekommen. Da sagte ein Ostler um die 40 (garantiert nicht politisch verfolgt, sondern allenfalls Wirtschaftsflüchtling), den ich als Anhalter in meinem Auto mitgenommen hatte, Deutschland solle die Türken rauswerfen, erst einmal seien nun „wir“ dran. Gemeint waren wohl die Ostdeutschen. Ich habe ihm dann erklärt, dass viele der Türken schon sehr lange in der Bundesrepublik leben, der Großteil sogar hier geboren sei – im Gegensatz zu ihm. Und dass auch von deren Steuergeldern das Begrü8ungsgeld finanziert wurde, dass er sich ja sicherlich auch habe auszahlen lassen. Da hat er erst etwas dumm geguckt und dann war er still.

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  7. Danke!
    Ich habe einige Jahre in Dresden studiert, mein Vater auch schon, wir fühlen uns dieser Stadt sehr verbunden. Sind aber nicht nah genug dran, um so viel Einblick in soziologische Details zu haben. Dein Text eröffnet mir Einsichten in meine vergangene dortige Zeit und das heutige Geschehen, das ist mir sehr wertvoll.

  8. Ebenfalls danke für den Beitrag.
    Als ehemalige Dresdnerin kann ich Ihre Ausführungen nur bestätigen. Sicher mag es zusätzliche Gründe geben, die dazu führen, dass gerade dort immer wieder auch braune Gesinnung ihre Hochburg hat, im Wesentlichen sind die Fakten genannt.
    @Modeste. Der „Mob“ hat nichts mehr zu verlieren, moralische Erwägungen etc. spielen keine Rolle. Man hat alles schon gesehen, alles schon probiert. Bestimmte Teile der Gesellschaft hatten und haben keine „Chance“. Hier herrscht keine vorübergehende Unsicherheit, sondern die Sicherheit, dass es in diesem Leben nichts Gutes mehr gibt.
    Selbst wenn man derzeit in Arbeit ist, landet man auf Grund des Lohnniveaus spätestens im Rentenalter in Armut/Hartz IV. Ein mühselig erarbeitetes oder ererbtes Häuschen und anderweitig möglicherweise vorhandene Besitztümer müssen aufgegeben werden… Und während zumindest offiziell von staatlicher Seite den Flüchtlingen Respekt, Achtung und Anteilnahme entgegengebracht werden, spürt man davon gegenüber einheimischen sozial Schwachen nichts oder das Gegenteil.
    Noch ein kleines Beispiel für Demütigung:
    Nachdem viele im Osten durch z.T. mehrfachen Verlust ihres Arbeitsplatzes ins soziale Abseits gedrängt wurden, zumindest zeitweilig Familie und Heimat verlassen mussten etc. wurden während der Finanzkrise, als es vorwiegend westdeutschen Arbeitern „an der Kragen“ ging und mancher Schwabe sein Häuschen bedroht sah, Gesetze erlassen (24 Monate Kurzarbeit…), die eben dies verhinderten.
    Im Angesicht des gesicherten Daseins der ( größtenteils fremden) Oberschicht der Landeshauptstadt haben sich viele endgültig ihren eigenen Reim darauf gemacht.
    Leider scheint nunmehr für einen bestimmten Personenkreis auffälliges Verhalten, entgegen jeder menschlichen Norm, die einzige Möglichkeit zu sein, gesellschaftlich wahrgenommen zu werden bzw. scheinbar ihre Ohnmacht zu überwinden.

    • @Petra: Das stimmt doch nicht. Jeder der Leute, die sich in der BZ oder andernorts in der eigenen Larmoyanz suhlen, hat jeden Morgen wieder die Chance, sein Leben zum Guten zu wenden. Italienisch zu lernen, das Abitur nachzumachen. Zu Fuß von Flensburg nach Rosenheim zu laufen und darüber zu schreiben. Ein Bild zu malen, seinem Nachbarn einen Kuchen zu backen. Erlösung in der Kunst zu suchen, in der Liebe oder in der Religion. Freundlich zu sein. Das ist doch keine Frage von Geld oder – komischer Diminutiv im Übrigen – einem „Häuschen“.

      Es gelingt ja auch genug Leuten, sich am eigenen Schopf aus der Misere zu ziehen. Wer das nicht kann oder nicht will, der kann keinen anderen für fehlende Anerkennung verantwortlich machen.

    • Ich kenne einige arme Leute und werde selbst von Altersarmut betroffen sein, die Rente, die ich zu erwarten habe, liegt weit unter dem derzeitigen Hartz IV-Satz (nein, ich kann nicht privat zusätzlich vorsorgen und erbe auch kein Häuschen oder Geld). Trotzdem würde es keinem von uns im Traum einfallen, so hässlich zu reden oder/und zu handeln.

      Und was Demütigungen angeht: Die hat es auch in der DDR gegeben. Sie mögen anderer Art gewesen sein – keine Zulassung zur EOS, obwohl man das Zeugs dazu gehabt hätte; keinen Studienplatz im gewünschten Fach, da keinen Tag länger bei der NVA als nötig; EK-Bewegung; öffentliche Aussprachen; Antrag auf Reise ins NSW zur Beerdigung der Großmutter abgelehnt; nicht lesen dürfen, was man möchte, da Zensur; Langeweile auf Arbeit, weil es gar nicht genug für alle zu tun gab; endlos Schlange stehen für Alltäglichkeiten; Intershops usw. usf. – aber es gab sie auch. Das wird heutzutage halt nur allzu gern verdrängt.

  9. Vielen Dank! Und ich möchte noch einen klugen Mann zum Thema zitieren:„Konflikte nämlich, die auf realen Problemen beruhen, lassen sich nur durch die Lösung der realen Probleme beseitigen. Das gilt insbesondere für alle Fälle von nationalistischer, rassistischer oder auch religiöser Intoleranz, die aus der wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Benachteiligung großer Bevölkerungsgruppen entstanden sind. Stabilen Frieden erreicht man nur durch Beseitigung der Konfliktstoffe. Man sollte sich keine Illusionen machen.“ (Schleichert, Hubert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken, München: Verlag CH Beck 2001, S.147)

  10. danke auch von mir.

    und noch was: das vielfach beschriebene verhalten einiger menschen erinnert mich fatal an meinen vater und viele aus seiner generation.

    geburtsjahr 1914, sein vater (direktor einer österreichischen landschule) war gerade in den krieg geschickt worden, kam dann schnell in russische gefangenschaft und erst wieder nach österreich zurück, als der sohn schon zur schule ging. als mein vater 15 war, schickte mein grossvater ihn nach berlin, über ein programm das damals besonders begabte kinder zu besonders gut bemittelten familien vermittelte. mein onkel (jahrgang 1909) hatte ein stipendium eines österreichischen ordens erhalten und studierte in wien.

    wie das nun so war in gut situierten familien, wurde dem jungen aus dem fernen österreich eben alles, was in einer grossstadt zum leben dazugehört, auf dem silbertablett präsentiert. schulabschluss, studium, kultur, sport, gesellschaftsleben, mit 17 begann mein vater mit dem segelfliegen, als der krieg ausbrach war er – hast du nicht gesehen – auch schon deutscher staatsbürger, technischer offizier bei der luftwaffe, staffelführer bei den jagdfliegern. über england abgeschossen, kam er dann nach eineinhalb jahren in ein offizierslager nach kanada. ja, zusammen mit denen, über deren flucht filme gedreht wurden. für mehr als fünf jahre.

    nach dem krieg kam er zurück nach österreich, weil es in deutschland für „solche“ keine arbeit gab. von seiner staffel von 32 leuten haben nur er und ein weiterer überlebt. die deutsche staatsbürgerschaft legte er zurück, damit er in österreich leben konnte, die österreichische staatsbürgerschaft bekamen „solche“ nicht. er lebte dann fast drei jahre lang von hilfsarbeiten auf dem land, machte mit seinem bruder zusammen musik bei diversen veranstaltungen, arbeitete im holzschlag. sein offiziersgehalt – das über die jahre der gefangenschaft angefallen war – lag auf einer bank in – magdeburg. vermutlich liegt es dort heute noch.

    die einzige zeit, in der er wirklich „jemand war“, ein mitglied der guten gesellschaft, mit den notwendigen mitteln in der tasche, das war die zeit kurz vor und zu beginn des krieges. was wunder, dass ihm diese zeit zeitlebens nachhing, dass er uns kinder entsprechend erzog, mit den seinerzeitigen idealen und wertvorstellungen? und was wunder, dass ich, noch gar nicht ganz erwachsen, massiv rebellierte? heute – über dreissig jahre nach seinem tod – verstehe ich was (mit ihm) passiert ist. sieben jahre unter seinesgleichen eingesperrt sein, mit seltenem und zensuriertem kontakt nach aussen, führt einfach zu einem im-kreis-denken. und wie kann man kriegsgefangenschaft aushalten, wenn man sich nicht täglich selber sagt und sagen lässt, dass man auf der richtigen seite war? wie kann man sich morgens in den spiegel schauen, wenn man sich nicht auch jahrzehnte nachher noch täglich sagt, dass man an die richtigen dinge geglaubt hat? er hat bis zu seinem tod an das dritte reich geglaubt, und natürlich waren alle anderen schuld.

    die moralische grösse, zu sagen: „was ich gesagt und getan und wofür ich gekämpft habe war falsch, ich bereue das zutiefst“, ist wohl nur ganz wenigen, besonderen menschen gegeben. in der theorie kann man das durchdenken, aber wie sollte man damit leben können? es ist mit sicherheit ganz oft auch sehr viel selbstschutz mit im spiel, wenn menschen an überholten gesinnungen festhalten.

    so geht es wohl vielen menschen, denen man ihrer meinung nach den boden unter den füssen weggezogen hat, ohne ihnen vorher die möglichkeit gegeben zu haben, sich entsprechend zu informieren, ohne sie an der hand zu nehmen und anzuleiten im umgang mit ganz vielen dingen. so etwas muss notwendigerweise zu einer glorifizierung des „vorher“ führen – ganz egal, wo und wann. es liegt in der natur des menschen, dass erst nur die auf die barrikaden steigen, denen es ganz schlecht geht, und später dann die, denen es vorher besser gegangen ist, auch wenn dieses schlecht oder besser vielleicht nur im auge des betrachters liegt.

    wohl gemerkt: ich will niemanden entschuldigen oder gar rechtfertigen. aber ohne zu verstehen warum etwas geschieht kann man es in zukunft nicht verhindern.

  11. Es gehört nur am Rande zum Thema, trotzdem ist es mir wichtig, es zu erwähnen: Mein Vater (Verwaltungsjurist) wurde nach der Wende „in den Osten“ geschickt, um Seminare für Verwaltungsfachkräfte zu halten. Die meisten seiner „Studenten“ waren sehr engagiert und diskussionsfreudig. Er hat die Diskussionen genossen, obwohl er damals schon chronisch krank und deshalb nicht immer auf der Höhe seiner Fähigkeiten als Lehrer war (und das auch wusste). Später hat er oft gesagt, dass da ein unglaubliches Potential verschenkt worden sei, denn diese Leute machten in den seltensten Fällen die Karriere, die ihren Fähigkeiten entsprochen hätte. (Es genügt also nicht immer, sich zu engagieren und weiterzubilden, um Erfolg zu haben – auch im Westen hängt viel von Seilschaften, Beziehungen und sogar vom Zufall ab.)

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