Sonntagsmäander im Winterwunderland

So mag ich den Winter in Berlin. Ein klein bisschen Schnee, so dass die Kinder ein, zwei Tage den Weinberg um die Ecke runterrodeln können, weiße Verzauberung auf den Platanen vor dem Fenster, Hundekacke und Sperrmüll gnädig zugedeckt. Bloß nicht zu viel, damit die selten geräumten Trottoirs keine Eispanzer bekommen und die schneeungewohnten Autofahrer nicht auf den Straßen rumschusseln und alles lahmlegen (BTW. neuestes Berliner Straßenverkehrsfeature sind Radfahrer mit Kindern, die auf vereisten Straßenrändern jeden Moment in den Autoverkehr zu stürzen drohen.)
Wenn dann noch wie gerade eben kurz die Sonne rauskommt, wie ist für ein paar Stunden alles paradiesisch und die Kugel vom Fernsehturm ist oben wirklich mit Schnee bedeckt.
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Die Woche begann für mich nicht so paradiesisch. Ich stand am Montag auf, freute mich darauf, schwimmen zu gehen, horchte aber in mich rein und stellte fest: „Oh, das wird wohl eine Erkältung, geh besser nicht schwimmen!“ Ein längerer Spaziergang würde es auch tun. Eine Stunde später legte ich mich mit Fieber ins Bett.
Ich hatte für den Dienstag vor einem halben Jahr etwas vollkommen Unaufschiebbares zugesagt, für das ich 7 Stunden fit sein musste. Diesen Tag stand ich dann auch durch, um danach wieder im Bett zu verschwinden. Seit Donnerstag bin ich wieder halbwegs auf den Beinen, aber weder die AnNäherung Bielefeld (für Nicht-Nähnerds: ein Wochenende, an dem 30-40 Menschen an Nähmaschinen sitzen), wo ich relativ weit oben auf der Warteliste stand, noch eine Fahrt zu Primaveras Geburtstag waren denkbar. Es zieht mich immer noch aufs Sofa unter die Kuscheldecke und die Nebenhöhlen brauen Bakteriencocktails und draußen attackieren mich die eigentlich gar nicht so zahlreichen Haselpollen heftig. Aber es gibt Schlimmeres.

Die Echokammer Twitter ist mir seit Silvester verleidet. Zu schrill, zu laut, zu viel Agitprop und allgegenwärtige Couch Coaches.
Als mir ein Tweet in die Timeline gespült wurde, in dem eine Freu meinte, die Flüchtlinge hätten sich schnell integriert, sie hätten sogar gelernt, wie in Deutschland sexuelle Belästigung ginge und das definitiv nicht ironisch meinte, war ich dort weg. (Mal ganz abgesehen von den ganzen Deutschmenschen, die es immer wieder von Facebook dorthin zieht, weil sich da noch besser verbal zuhauen lässt, aber die gehören nicht zu meiner Filterblase.) Das ist mir einfach zu blöd.
Natürlich kann ich jetzt öffentlich Meinung haben. Hab ja nicht umsonst eine Menge Kulturgeschichte studiert. Muss ich aber nicht.
Statt dessen erzähle ich eine kleine Geschichte. Ich hatte eine Freundin, die in Zittau völlig ohne Westfernsehen aufwuchs. Sie kannte den Westen aus Erzählungen, aus politischer Propaganda über den faulenden, sterbenden, dekadenten Kapitalismus (diese Propaganda war voll von aggressiven und sexualisierten Projektionen) und der einen oder anderen bunten Zeitung – Anfang 80er, die Zeit der Tittentitelblätter. Als sie dann ins Oderkaff kam, sah sie erst einmal jede Menge Westfernsehen und war enttäuscht. Sie hatte erwartet, dass dort Pornos laufen und nicht ganz normale Filme und dass in den Nachrichten ganz normale Straßenbilder zu sehen waren und nicht Menschen, die nackt unterwegs waren und es an jeder Ecke bunt durcheinander miteinander trieben, wunderte sie noch mehr.
Mir ging es nicht ganz so. Aber auch ich war nach dem Mauerfall erstaunt, dass der Westen so extrem sexualisiert war, dass Sex und objektifizierte Gespielen ständig durch die Luft schwirrten, aber das meiste in den Köpfen oder mit Worten stattfand und nicht getan wurde.
Irrtümer und Kollisionen über intime Themen passieren immer, wenn sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen vermischen. Siehe die gern kolportierte Geschichte über die schnell knutschenden Amerikaner, die die Engländer ob der überfallartigen Intimität völlig schockierten, wohingegen die Amerikaner die Engländer für die totalen Schlampen hielten, weil bei denen nach dem Knutschen sofort Sex kam.
Wenn für die obere Eskalationsstufe zu sexuellen Handlungen nicht bedeckende Kleidung reicht, dazu öffentliches Auftreten ohne aggressive Begleiter und Beschützer – plus Alkohol, plus Gruppen-Macker-Weristdercoolstetyp-Verhalten, plus nicht vorhandene (aber in der Kultur der Täter übliche) drastisch strafende Korrektive und Autoritäten, passiert so etwas wie zu Silvester.
So leid mir die betroffenen Frauen tun, besser es fliegt uns allen so unübersehbar und nicht bagatellisierbar ins Gesicht, damit sich eine Gesellschaft damit auseinandersetzen kann, als wenn Gerüchte über Gerüchte sich in sozialen Netzwerken ins Groteske verzerren und nur den reaktionären Hinterwäldlern in die Hand spielen. (Von den sich tagelang die Ohren zuhaltenden, Lalala singenden Leuten und von vollkommen deplatzierten Derailingaktionen wie: Wir leben doch schon immer in einer Rape Culture! ganz zu schweigen.)

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die Spracheuphemismen der Netzaktivisten und im letzten Jahr auch der klassischen Medien für gefährlich hielt (darüber schrieb ich dann nicht mehr, weil mir die Rechthaber zu aggressiv geworden waren, ich las monatelang fast keine Zeitung mehr, weil sie alle klangen wie die Staatsberichterstattung der DDR, null substanzielle Information und jede Menge Hype).
Wer Angst davor hat, über kurzzeitiges taktisches Schweigen hinaus, öffentlich über ein Thema zu sprechen, hat die Macht darüber verloren.
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, deren offizielle Kommunikation jahrzehntelang eine Camouflageaktion war. Bis zum Zusammenklappen der DDR schrieben die Zeitungen und berichtete das Fernsehen in einem Stil, der in jedem Wort die Wunschgesellschaft beschwor und beschrieb. In der Hoffnung, dass dies das Denken der dummen, trägen Masse beeinflussen möge und in der Angst, dass unliebsame Wahrheiten dem politischen Gegner in die Hände spielen. Das funktionierte nicht.
Auch in meinem familiären Umfeld wurden unliebsame, nicht ins fortschrittliche Weltbild der Sieger der Geschichte passende Ereignisse beschwiegen oder verdreht. Es gab ausgedehnte Tabuzonen und Redeverbote. Die Sowjetarmee bestand da aus freundlichen, kultivierten Offizieren und folgsamen, netten Soldaten. Trotzdem warnte mich meine Mutter davor, zusammen mit den Jungen des Viertels zu den Wachposten an der Kaserne zu gehen und Zigaretten gegen Munition zu tauschen. Die jungen Männer könnten durch mich pubertierndes Mädchen sexuell aufgereizt und zu Untaten gebracht werden, die drastischen Strafen dafür wollte man ihnen ersparen.
In der DDR lebende Afrikaner waren durchweg „wissbegierig und natürlich intelligent“. Nebenher erzählten sich die Genossn die (urbane Legende?) Geschichte von der empörten Frau, die ein Parteiverfahren wegen sexuellem Mißbrauch anstieß, nachdem sie in der Partynacht auf einer Partei-Weiterbildungsfahrt mit dreimal einem netten afrikanischen Studenten geschlafen hatte und am nächsten Morgen mitbekam, dass es nicht einer dreimal hintereinander sondern drei verschiedene Männer waren, die die Verwechslung sehr goutierten. (Höhöhö! Unverhofft kommt oft! Schenkelklopfer!)
Ich erzählte meiner Mutter von einem Ereignis, das sich 40km vom Oderkaff entfernt abgespielt hatte. Die Sowjetische Armee hatte an einem Sonntag ihre Übung vom nahen Truppenübungsplatz ausgeweitet und Luftangriffe auf eine Wochenendsiedlung daneben geflogen. Meine Jugendliebe und seine Familie waren wie alle anderen schreiend in die Häuser gerannt. Meine Mutter drehte sich weg und sagte: „Das kann nicht passiert sein!“
Wo und wie so eine Gesellschaft endete, als die Realität in ihre offiziellen Legenden einbrach, wissen zumindest alle Deutschen über 40. Nur gibt es diesmal kein Fallback in Form eines wirtschaftlich stärkeren Nachbarstaates.
Analysieren und handeln, wo handeln funktionieren kann, ist allemal besser als schwafeln und mit Mimimi in Schutzräume flüchten. Ich glaube, die Fluchtbewegung nach Europa ist auch durch Grenzschließungen nicht aufzuhalten. Die Ereignisse des letzten Jahres und des nächsten werden Europa wahrscheinlich nachhaltiger ändern als der Fall des Eisernen Vorhangs.
Und vielleicht wird Angela Merkel in der Geschichte eine ähnliche Funktion haben wie Michail Gorbatschow. Eine angesehene, aber nicht von allen geliebte Person, die einen Hebel umgelegt hat und unumkehrbare Veränderungen veranlasste.
(Edit: Harmoniesüchtiges Schweigen und Nebelkerzen werfen rächt sich jetzt schon. Die Fortschritte, die Flüchtlingssituation zu ordnen, werden über dem Thema Köln nicht mehr gesehen.)

Das soll es dazu gewesen sein. Ich bin über ein paar Artikel gestolpert, die ich interessant finde:
Sybille Berg über Frauen und ihre selbsternannten Beschützer
Eine Besprechung von Daniele Gigliolis Essay „Die Opferfalle“, den ich daraufhin für ziemlich lesenswert halte.
Und ein aktueller Artikel von Bernd Ulrich in der Zeit zu Köln und den Folgen.

Weiter gehts mit Handarbeit. Vor Weihnachten scheitere ich mehrmals. 1. an einem Burda-Modell für üppigere Frauen, weil entweder das Probeteil zu weit oder zu eng war. 2. weil ich nicht in der Lage war, das schöne Fake-Wickelkleid, dass Frau Crafteln in „Geschickt eingefädelt“ nähte, von Größe 42 (nenn es Schlankmacherkleid und setze es in die Promotion-Beilage zur Burda in den Größen 38-42, kannste dir nicht ausdenken) auf meine Maße zu gradieren und einen beulenden Sack produzierte.
Ich habe null Bock, mich um Passformprobleme zu mogeln, indem ich Jerseysäcke zu nähe oder mich womöglich damit beschäftige, meinen Körper auf Konfektionsmaße zu optimieren.
In den letzten 2 Wochen habe ich deshalb in freien Stunden Schnittkonstruktion gelernt. Aber bis ich das anwenden kann, wird es noch viele Probeteile geben.
Deshalb gibt es nun erst einmal eine Erfolgserlebnis-Zäsur. Ein Stamp-Quilt in vielen Blautönen, der mit Kissen und Tragebändern wieder einen transportablen Schlafplatz ergeben soll.
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Ach so und die Baustelle Internet gibt es immer noch, da der Wechsel zu einem anderen Anbieter oder in einen anderen Vertrag sich schwierig gestaltet. Nun sind es nicht mehr die Probleme mit der DSL-Synchronisation, sondern das Netz wird (je nach Tagesform) binnen Stunden immer langsamer, bis gar nichts mehr geht. Nachdem der Router neu gestartet wurde – was heißt, neue IP-Adresse, neuer Port in dem Schaltkasten unten auf der Straße – läuft es wieder einige Zeit. (Das wird sicher auch nicht anders, wenn der Vertragspartner jemand ist, der die Leitungen von der Telekom mietet.)
Nervend. Aber vielleicht bin ich da auch zu anspruchsvoll. Der Graf kann immer noch auf seine LTE-Devices ausweichen. Mein mobiles Datenvolumen war immer sehr knapp gehalten, weil ich vor allem zu Hause im Internet war. Die Nachbarn hingegen meinten, dass das WLAN manchmal nicht ginge und dann nähmen sie sich ein Netzwerkkabel oder warteten ab… Alle anderen haben auch schon eine Vertragskündigung bekommen und sind auf IP-Telefonie umgestellt worden. Was wir noch abwarten wollen, da es derzeit immer wieder lange Ausfälle im überlasteten Netz gibt. Könnte durchaus sein, dass ich demnächst einen Homeoffice-Job mit viel telefonieren mache, dann muss das funktionieren.

Das wars. Jetzt geht es hier weiter mit Kaffee und einem Rest Weihnachtsstollen.

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4 Gedanken zu „Sonntagsmäander im Winterwunderland

  1. Die Umstellung auf IP war hier (München) nur kurz etwas holprig und konnte von der Telekom mit Fummelei an zwei Schaltkästen sehr schnell behoben werden. Ich hatte etwas Bammel davor gehabt, aber es hatte zuvor auch hier Ausfälle und das scheint vorbei zu sein.
    Den Anbieter zu wechseln bringt nichts, das Recht auf die letzte Meile liegt immer bei der Telekom.
    Es sei denn, Sie wechseln zu Kabel Deutschland (oder ist es in Berlin Unity?).
    Die haben ihr eigenes Netz.
    Ach ja, die Rechnung ist jetzt um € 8,– niedriger. Ich shreddere gerade die 10 Jahre alten Unterlagen und staune, wie günstig die Tarife inzwischen geworden sind, es ist grade mal die Hälfte die man bezahlt.

    • Wir sind noch am Überlegen. Kabel liegt nur bis zum Keller, der Rest bis in den 4. Stock müßte noch gelegt werden. Die Bewohner hier haben alle keine Fernseher, deshalb ist das Interesse nicht sooo groß daran.
      Was die Störungen betrifft, so ist das in Berlin leider aktuell. Die Firma, in der der Schwiegersohn arbeitet, war deshalb einen Tag mal nicht zu erreichen.

  2. Hey, mir wurde jahrzehntelang ungefragt eingehämmert, dass Frauen nicht mein Eigentum seien. So habe ich auch keinen Grund mehr sie zu beschützen und tue es auch nicht.

    Viel Spass noch.

    • Wirklich emanzipierte Frauen können das ganz gut allein, keine Sorge. (Und wenn sie mal beschützt werden wollen, dann vor allem, damit mann sich gut fühlt.)

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