Sonntagsmäander im Schnee

Hunderfünfzig Meter von hier fahren Unmengen von Kindern mit Schlitten den Weinbergsweg hinunter und wahrscheinlich ist der Hang schon wieder erdschwarz und blankpoliert. Gras wächst da schon seit einigen Jahren nicht mehr, sondern so ein multiresistentes, kriechendes Kraut.
Aber die Kinder haben Spaß und es gibt einen der wenigen Wintermomente, wo die Stadt im Schnee schön ist. Lange hält sich das sowieso nicht.

Die Woche war halb Urlaub, halb Tun. Bis zum Dreikönigstag habe ich es gern etwas fauler. Rundum passiert ohnehin noch nicht so viel und Leute sind nicht erreichbar. Zeit zum Rumpusseln und so.

Gestern taten der Graf und ich aber auch noch etwas ernsthaftes. Wir gingen ins Theater. Das Gorki hat Müllers Der Auftrag im Spielplan. Wenn man mich nachts weckt, kann ich Passagen des Stückes rezitieren, manchmal lese ich den Monolog des Mannes im Fahrstuhl. Natürlich musste ich das sehen. Da Müller-Inszenierungen immer schwierig sind, habe ich den Graf vorbereitet, dass er – ähnlich wie in der Oper, wenn die Kulissen vor Alter wackeln und Gastsänger hilflos auf der Bühne umherstaksen – die Texte als Assoziationsfläche nehmen kann.
Es kommt wie es kommt. Die Inszenierung hat vor allem ein geiles Plakat-Foto, ansonsten passiert das Übliche. Karge, schwarz-weiße Bühne, nackte Männer, Blechschüsseln und – wannen, ein bisschen Matschepampe, die unvermeidliche Videoprojektion und – mal was anderes – statt der üblichen Popsongs eine lebendige Jazzsängerin, statt Theaternebel heftiges Zigarettengequalme und sehr angezogene Frauen.
Ich habe zunehmend das Gefühl, dass diese Regietheater-Stereotype, die ich seit 30 Jahren sehe, sich immer mehr verselbständigen. Man spritzt mit Wasser oder Blut oder macht sich nackig, weil das schon immer so war. Da denkt keiner mehr drüber nach, weshalb oder warum. Die Schauspieler bieten es an und die Regie kauft es. Immer wieder. Wie langweilig.
Sich dem Text stellen? Sich der Botschaft stellen? Dass da Leute ausziehen, die Welt zu verändern und der einzige, der gewinnt, ist der Angehörige der weißen Oberschicht, der meint, der Brüderlichkeit sei jetzt aber mal genug. Der Schwarze findet seine Freiheit im Tod, nachdem er und die Seinen mit ihr nicht zurecht kamen, der weiße Underdog wird bestraft und für sein Ansinnen der Gleichheit verächtlich ausgelacht. Das war die Erinnerung an eine Revolution. Könnte es sein, dass es gar nicht so weit ab von dem ist, was wir gerade erleben?
(Könnte ich es, würde ich das Stück als dramatisch ausgeleuchteten Zombiefilm drehen.)
Und diese Spielastik. Da sagt man Text auf und macht was dabei. Rauchen, schreiten, schreien. Ruth Reinecke im Spot mit dem Monolog des Mannes im Fahrstuhl – endlich ist mal jemand präzise und auf dem Punkt – und man traut der Situation nicht und muss im Hintergrund etwas tun. Sich die Köpfe mit Tonpampe maskieren nämlich und den Ton wieder abmachen. Ohne Bezug zum Text. Irgendwann hört keiner mehr zu, man schaut nur noch auf diese Spielereien.
Die letzte Szene des Stückes ist ein Gespräch an der Rampe. Da ist die Luft schon raus, da sitzen die Schauspieler wie in der Kantine da und benutzen nicht mal mehr ihre nette Ausstattung.
Den einzigen Rhythmus machen die Songs der Jazzsängerin, sonst sackt alles immer wieder durch und man hat das Gefühl, die Schauspieler haben Hänger und wissen nicht, wie es weitergeht.
Leute ey. Theater ist schweineteuer. So teuer, dass mittlerweile der Dramaturgiehospitant souffliert. Hat man eine Stelle gespart. Und inmitten von Material-, Raum- und Personalkosten passiert eine Implosion ins künstlerische Nichts. Es ist nicht mal eine Implosion, die hätte noch Dynamik. Ein Ballon entlässt heiße Luft. Ein müder Hauptstadt-Theater-Pups.

Wenn ich schon mal am Ranten bin. Der Herr H. Da denke ich schon mehrere Wochen drüber nach und rede ab und zu mit dem Grafen drüber. Der sagt immer wieder „der Zeitzeuge ist Feind des Historikers“, wenn ich gebellt habe „wer es nicht erlebt hat, soll gefälligst die Schnauze halten“.
Du kannst es einem nicht vorhalten, dass er mit 15 den gleichen Beruf wie sein Vater ergreifen wollte. Vor allem, wenn der so attraktiv war. Das ganze Haus voll verbotener oder verpönter Bücher und Zeitschriften. Macht über Kulturschaffende und doch ganz nah dran. Wasser predigen und Wein saufen. Die Aussicht, vom Staat für besondere Aufgaben auserwählt zu sein und dazu Journalistik zu studieren. (Ich kenne diese Versuchung. „Du bist was Besonderes. Wir machen, dass du Medizin studieren kannst und du erfüllst Aufgaben für uns. Und wenn du gut bist, schicke wir dich in den Westen. Ich hatte mit 15 einfach nur Glück, dass ich mit anderen darüber redete und dann scheinbar nicht mehr als vertrauenswürdig galt.) In meinem Studienjahr saßen zwei solche Leute. Die haben aber hinterher nicht mehr versucht, Uni-Karriere zu machen. Im Gegenteil, die krebsen im Security- und Eventbereich rum.
Im Fall H. ist es nicht relevant, was er mit 18 oder 19 tat. Ich finde es eher relevant, welche Angaben er mit 35 und auch noch vor ein paar Wochen über diese Zeit machte und warum er das so tat und nicht anders. So, wie er den Fragebogen der Humboldt-Uni ausfüllte, hat er scheinbar gehofft, es interessiert keinen mehr, was er mit 19 getan hat.
Wie er jetzt versucht, sich rauszureden, er hätte seinen Job damals nicht einschätzen können. So ein Bullshit. Jeder, der so eine Laufbahn begonnen hatte, wußte, was das war. Wenn es tatsächlich Unklarheit gab, half ein Blick in die Akten. Jeder, den es betraf, wußte auch, dass das für sämtliche Jobs im Staats- oder öffentlichen Dienst erhöhten Klärungsbedarf, wenn nicht sogar das Aus bedeutete. Auch schon 2005.
Von der Podiumsdiskussion bleibt mir als Unterton im Gedächtnis, dass da einer versucht hat, sich mit Halbwahrheiten durchzuwinden. Das lief auch eine Weile ganz gut. Im akademischen Bereich und unter Wohlgesonnenen. Aber in so einer exponierten Stellung wie der Berliner Wohnungsbaupolitik, am Schalthebel von Wirtschaft und Sozialem, da werden die Schmiermittel Wohlwollen und Nachsicht dünn bei gleichzeitig sich erhärtendem Widerstand. Da flutscht man mit Halbwahrheiten und Halblügen nicht mehr durch. Da muss man stehen wie eine Eins und möglichst wenig korrumpierbar und kompromittierbar sein. Diese Frontposition ist nichts für Durchwinder.
Ich verstehe nicht, warum in Herrn H. so viel Erwartungen hineinprojiziert werden, vielleicht auch überzogene, die die alten Berliner Wohnungsmarktverhältnisse wieder herbeiphantasieren oder glauben machen, es ließen sich schnell schicke, angemessen große, preiswerte Sozialwohnungen fürs Berliner Prekariat bauen. Er ist Wissenschaftler. Das, was da getan werden muss, kann jeder andere, der einen Arsch in der Hose und etwas Plan und Realitätsbezug hat. Ob das dann so aussieht, wie erhofft, bezweifele ich.
Ok. Herr H. ist kein Lobbyist. Noch nicht. Jemandem, der es erst mal probiert und hofft, dass er mit unkorrektem Verhalten durchkommt, traue ich da nicht viel Loyalität und Korrektheit zu und Arsch in der Hose schon gar nicht. Aber zu Berlin passt diese Personalie.

Wen ich grade als Grumpy Middleaged Lady im alten Sumpf der Ostvergangenheit wühle, kann ich auch noch noch was rausholen. Nämlich die Geschichte eine Mannes, der eigentlich hätte Großes werden können. Groß, stattlich, gebildet, aus guter Familie. Dann kam die Wende und seine Welt kam in die Schräglage. Ihn fing kein Gleitmittel auf, dazu war er viel zu rau. Er rutschte schabend nach unten. Vom geschätzen Lektor im Staatsverlag zum zweimal umgeschulten Langzeitarbeitslosen. „Die Schweine sollen mir das büßen!“ war seit 25 Jahren seine Rede. Dann kam mit 60 noch einmal die Liebe ins sein Leben. Glaubte zumindest er. Liebe schaltet ja gern das Hirn aus. Es war eine sehr, sehr junge Frau, die recht bald schwanger war. (Frauen nahm er nie für voll, die an seiner Seite hatten alle Karriere gemacht, während sie für ihn die süße Kleene waren und waren dann weg.) Kaum war das Kind auf der Welt, hatte sie ihre Aufenthaltsgenehmigung. Es gab keinen Anlass mehr, bei dem bitteren alten Mann auszuharren.
Jetzt macht er Parteikarriere. Bei welcher Partei, das können Sie sich sicher denken.

Dann noch etwas Gutes zum Thema Menschen aus der Fremde und Männer, Hirn und Hose: Wer sich den Dingen stellt, schafft viel Gutes, kann das nur manchmal nicht mehr in so euphemistische Worte packen. dazu brauch es präzise, starke, der Situation entsprechende Kommunikation.
Hier: Frau Read On
Dann wollte ich hier noch einen Jahrerückblick verlinken, der das Dilemma beschrieb, über Dinge nicht reden zu können, weil jeder politische Pol scheinbar ganz genau weiß, was die Wahrheit und ihre Konsequenz ist, obwohl man selbst diejenige ist, die sich damit praktisch beschäftigt. Ich finde den Blogpost aber nicht mehr. Er scheint nun offline zu sein. Das sagt aber auch viel.

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