Junge Mädchen

Grade packe ich eine Bewerbung aus. Ein blondes Mädchen, vom Styling und Gesichtsausdruck gefühlte 16. Sie ist aber schon Mitte 20. Ganz oben in den persönlichen Angaben stehen neben der Größe auch das Körpergewicht, das ist selbst für meine Branche ungewöhnlich, da sprechen vorteilhafte Fotos in der Regel für sich.
Ich rechne im Kopf und komme zu keinem Ergebnis, dann googele ich nach einem BMI-Rechner und gebe die Werte ein. Sofort ploppt ein Fenster auf „Sie haben Untergewicht. (BMI unter 18,0) Bitte sprechen Sie mit einem Arzt, es könnte Magersucht vorliegen.“
Ich sehe noch mal auf die Fotos. Der Kopf schiefgelegt, die Hände immer am Körper, sich selbst haltend und streichelnd, in Decken und Pullover gewickelt und sich doch entblößend: Knochige Knie, fettfreie Hüften, sichtbare Beckenknochen. Große Augen mit dunklen Ringen. Kaum Muskeln. Die DVD verrät noch mehr. Dünne, kranke Haare, schlechte Haut, kraftloser Gang. Auf eine modelhafte Art ist sie gut zu fotografieren, sie ist auch nicht ganz talentfrei, aber sie scheint ihre mentale Unreife, die immer wieder in der Mimik durchbricht, mit diesem Körper („Bin ich nicht schön? Und wenn ich die Zigarette so halte, bin ich ganz cool.“) zu kompensieren.
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Eine Absage wird das in jedem Fall. Sollte ich sie begründen? Und sollte ich sie mit den Tatsachen begründen? Daß ich den Eindruck habe, sie ist magersüchtig und mental nicht stabil und ich finde nicht, daß sie in diesem hammerharten Beruf richtig ist.
Schwierig.

11 Gedanken zu „Junge Mädchen

  1. Ich denke, die Wahrheit so zu verpacken, daß Ihr Gegenüber sie annehmen kann – das ist Ihre große Stärke.
    Magersüchtig und unsicher sind wahrscheinlich die falschen Worte, aber daß man sich mehr frauliche Kurven, mehr Körperspannung und Ausdrucksvermögen wünscht, das kann man schon sagen.

  2. Finde ich nicht! Also wenn sie sich nicht gerade als Model beworben hat würde ich kein Wort über ihre Figur verlieren, auch wenn sie dir soviel verraten hat. Wenn du ihr unbedingt helfen willst, dann erklär dass das Bild und die Selbstdarstellung nicht passend war, aber allein das sie ihr Gewicht angibt zeigt das sie wohl eher eine Therapie statt einen Ratschlag braucht.

  3. …eine branche frisst ihre kinder… er mag, dass und wie sie darüber denkt, und dass sie es mitteilt… das ist doch immer ein anfang

  4. gnaaa! ich habe heman die fotos gezeigt. gefragt, was er von ihr hält. „ja was denn, die sieht doch klasse aus!“ von meinen beobachtungen erzählt. „quatsch. ist doch gut, wenn sie nicht so eine maschine ist.“
    männer…
    werber…
    insbesondere exwerber…

  5. REPLY:
    naja, eine ausweichende erklärung könnte bei so schräg gestörten menschen auch zur folge haben, daß sie glauben, sie sind immer noch zu fett…
    (aber ich entwickele scheinbar grade ein helfersydrom.)
    ach so und als nachtrag: sie hat sich bei mir für einen beruf beworben, bei dem der körper sehr wichtig ist, obwohl nicht alle frauen so uniform aussehen müssen wie models.

  6. Eine Absage ist hart, wenn man jung ist und wenig selbstsicher, da spreche ich aus Erfahrung. Warum, warum, warum, zermartert man sich das Hirn und will es wirklich wissen, traut sich aber nicht, nachzufragen. Deshalb begründe ich Absagen, wenn ich welche ausspreche, sachlich und wahrheitsgemäß, möglichst wenig verletzend. Wobei Verletzungsgefahr in solchen Angelegenheiten nicht nur in ablehnenden Worten liegt, sondern unkalkulierbar in der Psyche des Gegenübers. Trotzdem müssen manche Dinge einfach gesagt oder geschrieben werden, finde ich und würde mich an Frau Fragmente halten.

  7. REPLY:
    ich glaub, als Frau hat man da einen ganz anderen Blick dafür. Aber die richtigen Worte? Nunja…eine Begründung sollte dabei sein, aber wie sagt man jemanden, dass er untergewichtig ist? Wenn von fraulicheren Formen die Rede ist, kann das auch schnell ins Gegenteil umgedacht werden, nämlich dass das Mädel noch zu dick ist und das von sich denkt. Oh mann…schwierig, schwierig.

  8. REPLY:
    mir wäre in meinen jobanfängen mit konkreten begründungen für absagen auch gedient gewesen.

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