Ich breche eine Lanze für

Franz Josef Wagner . Ja, für den kettenrauchenden, immer schmierig und verlebt wirkenden Bild-Chefkolumnisten. Der in den letzen Jahren nur noch mit seinen Volksseelen-Artikeln auf Messers Schneide vor den mißmutig gerunzelten Augenbrauen des Feuilletons tanzt.
Anfang der 90er brauchte ich in meiner ostdeutschen Sucht nach bunten Bildern ab und zu MAX, auch wenn es teuer war. Dort schrieb er 80 oder 100 Zeilen. Über Nachtschwärmer in Berlin. Darüber, daß sie an der Currywurstbude stehen, die übriggebliebenen, enttäuschten Frauen, für die er wieder nicht dabei war und die druckbetankten, träumenden Männer, denen ihr Beuteschema wieder einmal die kalte Schulter gezeigt hat. Darüber, daß sie einsam nach Hause gehen und allen außer Selbstekel und Träumen nicht viel geblieben ist.
Dieser brachiale, ziemlich anachronistische Existenzialismus der Texte traf mich immer wieder wie ein Schlag in die Magengrube. Das war pur, im Gegensatz zu Maxim Billers distanzierten Zynismen, seinem kindischen épater les bourgeois in Tempo.
Der Stil erinnerte mich an Kisch, Tucholski und Kerouac.
Und Headlines konnte er. Nach längeren Texten zu recherieren, war mir nicht so wichtig. Ich las, wenn ich Bild in der Hand hatte, seine Kolumne, blendete meist den Inhalt aus und berauschte mich an den Sätzen.
Und heute lese ich etwas verspätet im Spiegel Nr. 29 seinen Artikel zum 20. Todetag von Jörg Fauser. (Leider nicht zu verlinken, da im kostenpflichtigen Archiv.) Ich weiß wenig über Literatur der Bundesrepublik, mich haben andere geprägt. Heiner Müller, Volker Braun, Irmtraud Morgner, Christa Wolf (widerstrebende Rezeption) und die selbstgedruckten Künstlerheftchen der Berliner und Leipziger Szene.
Wagners Erinnerungen an Fauser sagen mir eines: es gibt die anderen 68er. Sie schreiben für Bild, haben Aktiengesellschaften, sind Millionäre und/oder sind verkommene Alkoholiker. Revolte war für sie genauso wichtig. Aber hat sie die Überformung durch die hehre Lehre interessiert? Rausch war wichtig und Bewegung und Unkonventionalität und Weiber. Die Rechtfertigung durch Ideologie war scheinbar nicht nötig. Ich muß das ganz naiv fragen. 68er sind für mich eigentlich Althippies, Studienräte, Grünen-Funktionäre, Öffi-Fernsehredakteure, Terroristen und deren Unterstützer oder schlicht die weißhaarigen Kiffer im Görlitzer Park. Die öffentliche Darstellung sagt immer: die (linken) Nicht-Spießer gegen die (rechten) Spießer.
Das scheint nicht zu stimmen.

4 Gedanken zu „Ich breche eine Lanze für

  1. heißt das, ich habe einen ziemlich hohen grad auf der nach oben offenen perversionsskala erreicht?

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