Fünfundzwanzig

Vor fünfundzwanzig Jahren war der Winter selbst im nah an Sibirien gelegenen Oderkaff atypisch warm.
Ich stand an zwei Fronten: In der Uni, bei dem Studium, für das ich fünf Jahre gekämpft hatte und das nun für mich befremdlich und fast ein bisschen enttäuschend war. Ich musste lernen, meine Gedanken in der richtigen Sprache zu verkaufen, ich kannte die Codes noch nicht. Wie immer war ich distanzierte Beobachterin. Es war ein Zwiespalt, war doch die Theaterwissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Uni ein Ort, der frei von allzu großer ideologischer Zwanghaftigkeit war und das freie Denken forderte und doch fühlte ich mich fehl am Platz, zu pragmatisch für die Uni.
Zu Hause, in Ehe und Familie, ging es um das, was man heute Gleichstellung nennt. Ich hatte meinen Mann – arbeitend und später dazu weitestgehend allein mit unserem Kind – im Studium unterstützt. Nun nahm ich das für mich selbstverständliche Recht, es genauso zu tun. Ich wollte die Woche über in Berlin studieren und das Wochenende der Familie widmen. Das ging kein Vierteljahr gut. Das Kind war oft krank, ich bekam den Sprung ins andere Leben mental und zeitlich schlecht hin und der Mann schien mit Haushalt, neuem Job und Kind überfordert.*

Um mich herum herrschte die Erstarrung der spätsozialistischen Gerontokratie. Freunde, Kollegen und viele meines Alters, die mir über den Weg liefen, warteten auf die Ausreise. Einzig die Kommilitonen wollten es mit diesem Land noch versuchen. Wer sonst inspirierend und interessant war, war bereits auf dem Absprung. Für mich, mit der Fast-Nomenklatura-Familie im Hintergrund, war das die Garantie, niemand von ihnen je wieder zu sehen und vielen zu schaden.

Ich wollte Regisseurin werden. Film natürlich. Ich arbeitete an einem Super8-Projekt nach einem Text von Thomas Brasch. Drehort sollte der damals schon marode Bahnhof Ostkreuz sein, mit diesem Mordor-Turm im Hintergrund. Irgendwo liegen noch gut 80 s/w-Motiv-Fotos, die der Kameramann gemacht hatte. (edit: leider doch weggeworfen) Ich malte Storyboards, suchte Schauspieler und entwarf ein schwarzes victorianisches Kostüm, das La Primavera anfertigte. Im Hintergrund organisierte das Amateurfilmstudio, mit dem ich verbunden war, Geld für die Produktion und hatte die Hand über uns. Manchmal hatte ich das Gefühl, von nix eine Ahnung zu haben, aber ich ließ mir das nicht anmerken.

Die Verwirklichung meiner Träume war Gas geben mit angezogener Handbremse. Ich hatte das Gefühl, wenn ich durchstartete, dann würde es krachen. Wahrscheinlich vertanzte ich mich deshalb an so vielen Stellen und fand für nichts richtig die Konzentration. Es blieb alles im vagen, für mich quälend Unproduktiven.
Mittlerweile habe ich gelernt, diesen Passagenzustand auszuhalten, in dem ich bereit bin, vieles versuche, das Ziel weiß, aber die Richtung und den Startzeitpunkt noch nicht kenne. In dem es für mich arbeitet.

Im Frühjahr des Jahres 1989 zog mit einem Holzkasten voll Kram ich in die Wohnung eines Freundes in der Brunnenstraße, weg von diesem fürchterlichen, kakerlakenverseuchten Studentenwohnheim. Der Sommer war brüllheiß und gleichzeitig starr und gelähmt, wie vor einem Gewitter. Honecker wochenlang im Krankenhaus, Gerüchte über die Vorbereitung von Konzentrationslagern, das Zivilverteidigungslager für uns fiel aus, man befürchtete illegale politische Zusammenschlüsse der Geisteswissenschaftlerinnen.
Ich hielt es nicht aus, ich wollte weg von Berlin, wieder irgendwo am Theater arbeiten, der explosiven Spannung in der Mauerstadt entfliehen. An den Abenden des Wochenendes stand ich hinter der Theaterbühne des Oderkaffs, sah in das Dunkle des Schnürbodens und hörte den Schauspielern unter den Scheinwerfern zu. Ich streckte die Fühler aus, um zurückzugehen und das Studium extern fortzuführen.
Mein ehemaliger Chef bot mir an, seine persönliche Assistentin zu werden. Doch man steigt nie zweimal in den selben Fluss. Ich sah plötzlich eine Seite an ihm, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Den schwer abhängigen Trinker, der um jeden produktiven Tag ringt. Ich sagte ab.
Die Semesterferien verbrachte ich mit dem Kind am See. Im September nach Berlin zurückgekehrt, hatte sich die politische Schraube noch enger gedreht. Wohnungen standen leer, die Bewohner waren über Ungarn ausgereist und hatten alle Sachen zurückgegelassen. Das Neue Deutschland versuchte sich als Bild-Zeitung.
Ich zog in den Prenzlauer Berg, näher zu den Freunden, unweit der Gethsemanekirche. Meine kleine Wohnung versah ich mit weißen Fußböden und schwarzen Stahlmöbeln. Auf einer an die Wand geschraubten Arbeitsplatte stand meine kleine Rheinmetall-Schreibmaschine. Nur ein Bett hatte ich vergessen, ich schlief auf dem Fußboden.
Ein anderer Mentor vermittelte mir eine Dramaturginnenstelle in Zittau, am Stadttheater. Der Intendant war interessiert, ich geschmeichelt. Aber das war die Ecke des Landes, die sich gerade entvölkerte. Ich sagte wieder ab, tief im Zweifel, ob ich nicht gerade eine große Chance versemmelt hatte.

Der Rest ist Geschichte und neues Leben. Die nächsten 25 Jahre konnte ich fast alles verwirklichen, von dem ich geträumt hatte. Gut, ich war zwar keine Regisseurin geworden, aber ich fand meinen Platz.
Ich saß mit 12 Jahren mit offenem Mund vor Fellinis „La Dolce Vita“. Nun konnte ich das leben. Klingt albern oder? Aber nun konnte ich alles sein, ohne kleinbürgerliche, mißmutige Kontrolle von Abweichlern: Durch die Nacht fahren, lieben, hassen, eiskalt sein und glühend heiß. Dekadenz erleben und Intellektualität. Mit gelindem Entsetzen begreifen, dass Dummheit und Schönheit synästhetisch sein können. Fürsorglich sein und abweisend. Schuld auf mich laden und mich verschenken. Selbstmörder betrauern und morgens am Meer sitzen.

tl;dnr: Mit 25 Jahren ist der Mensch wirklich erwachsen. Er hat begriffen, daß er jetzt für sich selbst verantwortlich ist und muss sich nicht ständig des Wohlwollens seiner Eltern versichern. Bei mir fiel das mit dem Mauerfall zusammen und veränderte mein Lebensgefühl sehr.

 

* Erst später sagte er mir, dass das ein Streik war, mehr nicht, er hatte keinen Bock, damals ging das scheinbar mit seiner Auffassung von Männlichkeit nicht zusammen. Heute ist das für ihn kein Thema mehr.

7 Gedanken zu „Fünfundzwanzig

  1. Nur so. Freue mich über jeden Ihrer Einträge. Es gibt nicht viele Selbstdenker. Der allgemeine Konformismus ist überwältigend. Schwer erkennbar, der Kritiki entzogen, weil er nicht durch äusseren Zwang erreicht wird sondern perfekt internalisiert ist.
    Danke für die Beobachtung: „Mit gelindem Entsetzen begreifen, dass Dummheit und Schönheit synästhetisch sein können..“. Ich finde das eine Gnade …. :-)

    • (Ich bin immer froh, daß es Leute gibt, die mein „Mutti erzählt vom Krieg“ lesen mögen.)

    • Danke! Ich meine vor dem großen Comeback könnte ich ja meine Memoiren schreiben oder?

  2. Pingback: Kitty Koma | Das Featurette Blog

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