Charlotte I

Sie wurde 1920 in sehr einfachen Verhältnissen in Lichtentanne unweit von Zwickau, auf dem Vorwerk Tannhof (einem alten Rittergut) geboren.
Ihr Vater war Schlosser. Ein zum Jähzorn neigender kleiner Mann, ein Bilderbuchproletarier, der schon mal den gedeckten Tisch umschmiß, wenn das Mittagessen bei seiner Rückkunft vom Sonntagsfrühschoppen nicht fertig war und es so einrichtete, dass er große Geschäft bei der Arbeit verrichtete, denn dann bekam er es bezahlt.*
Ihre Mutter machte alles, was anstand. Sie war Weißnäherin in Heimarbeit (in den 50ern machte sie die rundgesteppten Atlas-BHs) und hatte eine Putzstelle. Eine ihrer Schwestern hatte nämlich einen Gastwirt im Ort geheiratet. Einiges über ihren Verhältnissen, aber es wollte ihn wohl keine andere, weil er nicht so ganz gesund war und es einen dominanten Mutterteufel im Haus gab.
Dort putzte Lottes Mutter und half aus und im großen Gasthof wohnte die junge Familie auch. Die äußeren Umstände waren wechselhaft: Inflation (alle meine Urgroßeltern hatten ihren Hausstand in Inflationszeiten begründet), Konsolidierung, Wirtschaftskrise. Es gab erst 16 Jahre später noch einen Sohn, vorher schlief meine Oma mit ihrer Mutter in einem Bett.
Der Ton unter den Leuten war roh und laut. Kneipenprügeleien zwischen Kommunisten und Nazis, dazwischen die Sozis mit ihren Sparvereinen, die ihre Ruhe und ein kleines Glück haben wollten. Frauen, die funktionieren mußten und mit tausend Tricks verhinderten, zu viele Kinder zu bekommen. Wer es sich leisten konnte, legte sich mit einer theatralischen Frauen-Krankheit dauerhaft ins Bett und ließ die anderen machen. Nur, daß sie in dieser Familie immer zu den anderen gehörten, die machen mussten, um nicht zu verhungern.
Zuflucht und Erholung gab es im Arbeiter-Sportverein, ein ganzes Album ist voll mit Fotos der blonden, langbeinigen jungen Lotte und ihren Freundinnen in weißen Anzügen bei Turnfesten.
Nachdem die Nazis an die Macht kamen, ging es den armen Leuten besser. (Hab ich grade Autobahn gesagt? Mea Culpa!) Der freie Fall hatte aufgehört, nun gab es Arbeit, bescheidenen Wohlstand und Strukturen. Oft mehr als es denen, die sie sich gewünscht hatten, lieb war. Auf diesen Verrückten aus München und sein Gefolge hätte man in meiner Verwandtschaft sehr gern verzichtet. Aber man war es gewöhnt, dass es immer einen gab, der sagte, was getan werden musste. Widerstand war kein Überlebenskonzept.

In den Schilderungen meiner Verwandten gab es ein extremes Kopf-an-Kopf-Rennen der radikalen Ideologien. Diese Zahlen zeigen das auch ganz gut. Irgendwann hatten die Nazis die besseren Unterstützer und schafften es, die höherklassigen Unzufriedenen des rechten Spektrums zu sammeln und das zwölfjährige Debakel nahm seinen Lauf. Wenn Stalin nicht so paranoid auf die Disziplinierung/Ausrottung der eigenen Leute fixiert gewesen wäre, hätte das anders ausgehen können. Ob besser, wage ich zu bezweifeln.
Die Sozialdemokraten waren eher old school, kungelten mit dem Kapital, bauten an ihren kleinen Angestellten-Aufstiegskarrieren und wollten ihre Ruhe haben.
Die Nazis und die Kommunisten mit ihren militanten Auswüchsen SA und Rotfront-Kämpferbund waren sich radikalisierende Jugendkulturen mit älteren elitären Vordenkern. Da waren weite, industrialisierte Landstriche voll mit Leuten, die von ihrer unsicheren Arbeiterexistenz die Schnauze randvoll hatten. Dort waren die Versprechungen besserer Zeiten gern gehört.

Lotte war ging schon früh mit Heinz (auf diesem Foto ganz rechts), sie waren lange verlobt. Heinz, der Sohn eines Bergmanns aus dem Zwickauer Steinkohlenrevier, der so begabt und klug war, daß er Elektriker wurde mit Option auf mehr.
Ein sanfter Mann, der wahrscheinlich die charakterlich etwas eckige Charlotte aus dieser ruppigen, lauten Familie als Schutzschild und Korrektiv brauchte. Ein Mann, der sie in seiner Sensibilität wahrscheinlich sicher und entspannt machte.
Vor der Hochzeit kam noch viel dazwischen. Erst der Arbeitsdienst für ihn, dann musste er an die Front (Westfront, als Bodenpersonal bei den Fliegern, Glück gehabt) und auch sie ging irgendwohin zum Arbeitsdienst. Anfang der 40er heirateten sie. Das Hakenkreuz auf der Uniform hatte Oma später auf dem Hochzeitsfoto im Album mit Bleistift geschwärzt. Überhaupt gab es dort viele übermalte Hakenkreuze. Die beste Freundin heiratete „schlicht in Weiß, nur mit dem Parteiabzeichen auf der Brust“.
Sie ließen sich in Magdeborn bei Leipzig nieder, in der neugebauten Arbeitersiedlung des Werks Espenhain. Wenn der Krieg vorbei war, würde es dort Arbeit geben.
Im Dezember 1943 kam meine Mutter zur Welt. Komische Koinzidenz. Ich kenne viele in diesem Zeitraum geborene Kriegskinder. Es muss zwischen der Kapitulation von Stalingrad und dem Ausrufen des totalen Kriegs viele Fronturlauber gegeben haben und dazu den Gedanken, dass etwas bleiben muss, wenn sie nicht zurückkommen.
Meine Mutter war das einzige Kind und wie es zunächst aussah, wollte sie nicht lange bleiben. Kurze Zeit nach ihrer Geburt wurde sie so krank, dass man doch besser eine Nottaufe ansetzte.
Heinz war nicht lange in Gefangenschaft und was er mitbrachte, waren nicht Horroralpträume aus weißrussischen Sümpfen, sondern gemäßigte Erlebnisse eines Zuges in die Fremde: aus Frankreich, Griechenland und wenn ich ich recht erinnere, dem Kaukasus.
Es gab nicht viel zu Essen, man hungerte. Man half sich mit dem Schrebergarten und hielt dort Kaninchen und Hühner. Manchmal ging man zum Bauern, arbeiten. Nur waren dort im Leipziger Süden viele Arbeiterfamilien und wenige Bauernhöfe.
Charlotte, die eigentlich nie sehr kränklich war, bekam offene Lungentuberkulose. In dieser Zeit zwar keine unbedingt tödliche Diagnose mehr, aber eine, die mit Rückfällen, der Gefahr langen Siechtums und – wegen der Ansteckungsgefahr – strenger Isolation einher ging. Heinz war lebend zurückgekehrt und Lotte verschwand monatelang in Heilstätten (das waren Paralleluniversen für Geistes- und Lungenkranke, in Tschadraß, wo sie war, sogar auf einem Fleck). Das Kind (meine Mutter) pendelte zwischen Oma, Nachbarin und Tante, während der Mann ohne Ende arbeitete. Manchmal kehrte Lotte zurück, gedunsen, fett gefüttert, weiß wie eine Leiche, eine fremde Frau in fremden Kleidern. Der erste Sonnenstrahl, der sie berührte, ließ die Verkapselungen wieder aufbrechen und sie kam wieder in Quarantäne. Auf dass ihr Kind sie nicht mehr erkannte, wenn sie zurückkam.
Um Heinz, ein attraktiver Mann, der Karriere in Espenhain machte, schwirrten derweil die Kriegswitwen und warteten auf ihre Chance. Lotte hat bis an ihr eigenes Ende eine Todesanzeige aus den 70ern aufbewahrt. Die einer Frau, von der ihr zugetragen wurde, dass sie ihren Heinz mal gefragt hatte, ob der sich das wirklich antun wolle, mit dieser kranken Frau, die nicht mehr lange leben würde. Sie sei gesund und warte nur auf ihn. Lotte hat sie um mehr als 30 Jahre überlebt. Jedes Jahr holte sie die Anzeige hervor. Ihre Art, auf einem Grab zu tanzen.
Es muss irgendwas mit ihr passiert sein in den langen Zeiten in der Parallelwelt, in der es sich um Körperzustände, Okkupation durch Erreger, Dysfunktionen, Sterben oder Überleben drehte. Die Frau, die ich kennenlernte, hatte mit der, die ich auf den alten Fotos sah und die sich selbst in ihrem früheren Leben schilderte, wenig zu tun.
Modern würde man von Traumatisierung sprechen, von Konditionierung auf sekundären Krankheitsgewinn.
Sie war nie wieder richtig gesund. Und doch waren die Krankheiten, die ihr passierten, Allerweltskrankheiten. Eine Eierstockzyste, Gallensteine wegen der Buttermastkur, entzündete Krampfadern. – Jeder Eingriff versetzte die Familie wochenlang in Sonderzustände. Nicht, dass sie sich hängen ließ, im Gegenteil. Ihr Überlebenskampf fand nun auf einer großen Bühne statt. Meine Mutter lernte früh, ihr zur Seite zu stehen, im Krankenhaus hielt sie Hof. Gallensteine wurden hergezeigt wie bei anderen Brillianten. Behandlungen und Symptome wurden bei Kaffee und Kuchen detailliert erörtert und im Zweifelsfall das Doktorbuch zu Rate gezogen. Jeder andere in ihrer Umgebung wurde ebenso Opfer dieses sonderbaren Körperinteresses, das überhaupt keine Privatsphäre mehr kennt. So lernte ich sie kennen. Als „ist krank“ oder „forscht bei mir nach Krankheiten“.
Als Lotte endlich als halbwegs geheilt galt und ihr Heinz seinen Ingenieursabschluß neben der Arbeit fertig hatte, schien alles besser zu werden. Da wurde Heinz krank. Die Arbeit im Kraftwerk und das Studium nebenher, die häufigen Notdienste und Katastropheneinsätze, der selten komplette Haushalt hatten ihm, der nie Nein sagen konnte, schwer zugesetzt. Mit Ende 40 hatte er, der nicht rauchte, nicht trank und kein Übergewicht hatte, einen Herzinfarkt. Auf dem Weg in den Urlaub. Nur wenige Jahre später, die beiden hatten sich gerade einen Campinghänger gekauft und wollten jetzt das Leben genießen, starb er an als Hämorrhoiden verkannten Darmkrebs. (Alle seine Ingenieurs-Kollegen im Braunkohleveredelungswerk starben an Krebs.) Die Monate seines Siechtums und sein Tod verletzten Lotte nochmals schwer. Sie war Ende 40 und Witwe.
* Komisch, was von Menschen immer wieder erzählt wird und in den Erinnerungen anderer hängenbleibt.

9 Gedanken zu „Charlotte I

  1. Danke fürs Festhalten. (Insgeheim glaube ich ja, dass Blogs genau dazu da sind: Leben festhalten, die sich sonst im Vergessen auflösen würden.)

    • Ich ese Ihre spanischen Geschichten auch immer sehr gern. Hier war es noch mehr. Ich musste für mich etwas zurechtrücken, denn unser Verhältnis war oft, nicht schwierig … aber sehr anstrengend zumindest für mich.

  2. Sehr schön geschrieben, Miz Kitty, sehr berührend, sehr platisch vorstellbar, das Leben Ihrer Großmutter.
    Und mein Beileid zum Ableben der alten Dame.

    • Danke! Ich schätze mal bei der Heimreise hat sie einen kleinen Abstecher am See bei euch gemacht.

  3. Pingback: Woche 13 – Unsere Netzhighlights | Apfelmädchen & sadfsh

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