Brauchtum

Stellen Sie sich vor, Sie kommen in eine fremdes Land. In diesem Land findet einmal im Jahr eine Veranstaltung statt, die von einem Bevölkerungsteil initiiert wird, der seit 20 Jahren zu diesem Land dazugehört. Dieses Völkchen gilt als sonderbar, etwas depressiv und gestrig, keiner bringt ihm viel Respekt entgegen, es stirbt langsam aus und seine jungen Leute wollen nicht mehr dazu gehören.
Der Fernsehsender und die Wochenzeitung, die dieses Völkchen als Zielgruppe auserkoren haben, richten einmal jährlich eine Fernsehshow mit einer Preisverleihung an beliebte Prominente und verdienstvolle Bürger aus. Zwischen Tanz- und Gesangseinlagen nach Prinzip des Bunten Abends – Oper, Tanz, Popmusik, Volksmusik – werden die Geehrten auf die Bühne gerufen. Sie wären völlig überrascht, behaupten sie. Der Laudator überreicht ihnen dann ein goldfarbenes metallenes Huhn in Unterlebensgröße. Das Huhn wiederum soll an eine bei dem Völkchen einst sehr beliebte Entertainerin erinnern, die Henne genannt wurde und deren Paraderolle eine Putzfrau war.
Da die der Ehrung würdigen Menschen langsam aussterben, kann es passieren, daß einige den Preis zum wiederholten Male bekommen. Einer zum Beispiel kam zum vierten Mal auf die Bühne, um sich das Huhn mitzunehmen. Er ist einer der wenigen Vertreter diese Völkchens, der ohne seinen Dialekt und seinen Habitus anzupassen, sehr beliebt und erfolgreich im Fernsehen des gesamten Landes wurde. Auch ein armer Mann, der beim Mundharmonikaspielen in der Fußgängerzone entdeckt und zum Star gemacht wurde, wurde davon überrascht und freute sich ehrlich.
Dann kommt das Finale. Die Preisverleihung an den Präsidenten eines angrenzenden Staates. Sein Verdienst war es, gute Gedanken zur rechten Zeit zu haben, diese haben dem kleinen Völkchen Mut gemacht, die eigene Freiheit zu suchen, was in kurzer Zeit im Beitritt beim großen Volk endete. Es wird dunkel. Eine Taschenlampe erleuchtet langsam den Weg zum Rednerpult. Dann flammen die Scheinwerfer wieder auf. Genschman! Der alte Staatsmann, geliebt beim kleinen wie beim großen Volk. Er hält die Laudatio auf den Präsidenten. Obwohl über 80, spricht er gute 10 Minuten frei über die Verständigung zwischen großen und kleinen Völkern, über Respekt und Frieden. Dass sein Thema sich in den letzten 20 Jahren nicht geändert hat, obwohl das Land ganz andere Probleme hat: obskure Weltpolizei-Feldzüge, Religiöse Aggression und zusammenbrechende Banken, verzeiht ihm das Auditorium. Die Überreichung des Huhns rückt näher. Der Präsident steht etwas steifhüftig von seinem Platz auf, da gibt es einen Tusch: die kluge Lady, die Kanzlerin des ganzen Volks betritt die Bühne. Sie will das Huhn selbst überreichen, ist sie doch Abgestammte des kleinen Völkchens. Sie ist außergewöhnlich gut gestimmt und gelöst, ja sie versucht sogar einige Sätze in der Heimatsprache des Präsidenten. (Lockerheit und Humor sind sonst nicht ihre Stärke.) Ihr zukünftiger Sozius, der ebenfalls eilfertig während der Veranstaltung in den vorderen Reihen Platz genommen hatte, darf sich das ansehen und schweigen. Gut so.
Das Goldene Sonderhuhn wechselt den Besitzer. Der Präsident bedankt sich in seiner gemütlichen, konsonantenreichen Sprache, die Übersetzerin kommt kaum dazwischen.
Viel Applaus, unter dem die älteren Herren wieder zu ihren Plätzen staksen.
Dann tritt eine in die Jahre gekommene Hardrock-Band auf. Der Verdienst, das richtige Lied mit den richtigen Worten zur richtigen Zeit geschrieben zu haben, beschert den Herren eine ausgiebige Rocker-Rente. Sie spielen dieses Lied und noch eines aus dem neuen Album – Werbung muss sein. Großer Bohei: Feuerwerk, Flammen, Sinfonieorchesterbegleitung. Es sieht etwas absurd aus, wie sich die Herren so gespielt exzessiv mit ihren inzwischen etwas altmodisch gewordenen Elektrogitarren zum Playback bewegen. Das Orchester dagegen spielt live und das Publikum verliert sehr schnell das Interesse an der Musikpantomime.
Schluss aus, Abspann, alle auf die Bühne für Pressefotos.
Das Publikum rafft die Abendkleider und läuft zum Rauchen oder zum Schlangestehen aufs Klo. B- und C-Promis werden ausgiebig fotografiert und lächeln nett unter der Schminke, pensionierte Unterhaltungsurgesteine (ZettDeeEff) schauen sich nach Leuten um, die sie von früher kennen. Das erste Essen kommt auf Portionstellern, alle greifen hungrig zu. Aber die brandenburgisch-italienisch-asiatische Fusionsküche schmeckt etwas öm. Alles ist süß. Auch der Rotkäppchen Rosé-Sekt (das kleine Völkche mag liebliche Weine), der einen mächtig dicken Kopp verspricht.
So feiern das kleine und das große Völkchen denn gemeinsam in die Nacht hinein und wenn sie nicht gestorben sind, so feiern sie auch in den nächsten Jahren wieder und schenken sich Goldene Hühnerplastiken im Gedenken an die Entertainerin, deren Paraderolle eine Putzfrau war.

5 Gedanken zu „Brauchtum

  1. Hatte ich doch richtig geraten ;). Dann sind Sie vielleicht just über den roten Teppich gelaufen als ich auf dem Heimweg am Spektakel vorbeischlich…

  2. @lucky: ja, irgendwann konnte ich keine ausreden mehr finden und mußte dort hin. wobei die zahl der alten schlagerzombies abgenommen hat. sicher zum ärger der zielgruppe.
    @gedankengebäude: ich war mit einer hinreißend schönen frau unterwegs und wir waren tatsächlich fast zu spät. die autogrammjäger verdeckten aber jegliche sicht.

  3. ja, das mdr-fernsehballett und das ballett vom friedrichstadtpalast mit einer lederlappen-girlreihen-sm-tanznummer.

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